Die neue G-Klasse

Der genetische Code als Schlüssel zu Dasein und Karriere

01.04.1999   Lesezeit: 5 min

In »Gattaca«, dem global präsentierten Film von Andrew Niccols, gibt es viele schöne Bilder: Glasüberdachte Passagen & goldbedampfte Reflektoren, die aus der vorgestellten Wüstenregion eines fiktiven Zukunftsstaates eine Wellenlandschaft machen, durch deren Täler man lustwandeln kann. Doch beginnt »Gattaca« mit einem ganz anderen Vorspann: vorm himmelblauen Hintergrund schweben abgeschnittene Fingernägel, Haare & Hautschuppen in Zeitlupe herab. Der menschliche Ausschuß muß abfallen, damit sozialer Aufschluß aufsteigen kann. Es sind die Körperbestandteile von Eugene Morrow, einem durch Genmanipulation perfektionierten Mann: Seine Lebenserwartung ist hoch, er hat keine Erbkrankheiten, volles Haar & scharfe Augen. Doch weil er zum Sieger bestimmt war, kann Eugene nicht verwinden, in einem wichtigen Schwimmwettkampf geschlagen worden zu sein. Ein Selbstmordversuch läßt ihn querschnittgelähmt zurück, trotz seinen fabulösen Anlagen unbrauchbar für die Gesellschaft, die fast nur noch aus perfekten Mitgliedern besteht. Ein anderer, Vincent Freeman, gehörte von Geburt an nicht zu diesen Glücklichen. Seine Eltern zeugten ihn im Fond einer Limousine, nicht im Genlabor. Deshalb ist er mit einem Herzfehler zur Welt gekommen, kleinwüchsig und kurzsichtig außerdem. Doch sind seine Träume groß. Vincent möchte zu den Sternen fliegen, weil ihm die Erde nichts zu bieten hat. Aber »Gattaca«, die Sternenflotte, akzeptiert nur Mitarbeiter mit tadellosem genetischem Code – nur Titanen dürfen zum Titan. Deshalb tun sich Vincent & Eugene zusammen. Mit Eugenes Blut und Urin, mit seinen Schuppen, Haaren und Nägeln kann Vincent die Computer täuschen. Er ist jetzt Eugene und sichert dem Gelähmten mit seinen Einkünften den begehrten Luxus und den notwendigen Alkohol.

Generalproben des neuen Funktionswesens

Auf der einen Seite sind alle Götter tot, und das Subjekt Mensch verschwindet auch gerade. Auf der anderen Seite ist das noch lange kein Grund, die gute Laune zu verlieren. Der Schauspieler Matthieu Carriére guckt suggestiv ins Volksbühnen-Foyer und berichtet, wie ihn Deleuze einmal aus einer depressiven Phase holte. Er hatte sich gerade von seiner Frau getrennt & war ganz niedergedrückt – da machte ihm der postmoderne Heiler bewußt, daß er sich endlich von seinen überholten Ganzheitsvorstellungen verabschieden müsse: Du bist immer noch eine Fülle von Einzelheiten, du kannst immer noch produktiv sein! – In der Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz feiern die Menschenkinder – infolge des Todes der Väter zu Waisen geworden – im Frühjahr 1999 eine große Party der Einzelheiten und ihrer nicht-hierarchischen Verknüpfung. »Tausend Plateaus« heißt das Festival in Anlehnung an das Buch von Gilles Deleuze & Félix Guattari (1980), aber man muß es wirklich nicht gelesen haben, um zu merken, worauf es ankommt. An Neben-, Unter- und Hinterbedeutungen ist kein Mangel.

»Schnitzow Signifikationen – Ingenieur und Meisterbetrieb« steht auf den roten Werksuniformen der jungen Männer. Von allen Seiten stürmen die Signifikationsreize mächtig auf den Besucher ein. »Kontrolle und Biomacht sind auf das engste mit der Axiomatik des Kapitals verbunden«, schallt es von der Vorderbühne. »Es geht darum, einen organlosen Körper zu schaffen«, antwortet es von der Hinterbühne. »Kulturelle Differenz wird fortlaufend produziert als diskriminatorische Praxis«, funkt es aus dem Roten Salon dazwischen, wo Mark Terkessidis über aktuelle Ausgrenzungsstrategien spricht. »Es gibt nichts zu interpretieren«, ist die finale Botschaft einer Hinterbühnengestalt, die auch ein »WOW« ausstößt: im Rhythmus von Tönen & im Banne von Bildfetzen, die sämtlich in den Sog des Einverstandenseins münden. Theorie ist Techno wie mit anderen Mitteln. Das Erstaunliche an dieser Volksbühne ist das Publikum, das sie sich in ausreichender Menge durch ihre permanente Praxis der Dekonstruktion herangezogen hat: es ist in der Lage, sich an jedem beliebigen Punkt in jede noch so fragmentarische oder chiffrierte »Denk«-Geste ohne jede Unmutsbezeugung einzuklinken. Je länger die Nacht, desto mehr und desto jüngere Menschen drängen sich glücklich in den Gängen. Selbst der »Kurs im Wundern«, den eine Sekte aus Wusterwitz ungeplant im Roten Salon abhält, wird in die Performance dieses Marketing-Konzepts mühelos noch integriert.

Der Medienprofessor Peter Weibel trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: »I'm a slave of Microsoft«, und gibt des weiteren Auskunft über das innerste Wesen der Sache: Die verbindlich aufgestellte Forderung »Tauschen Sie Ihre Identität.« Erledigt wird das Samstag nachmittags in einer Institution namens »personality exchange«, die im Rhizomatic Development Room etabliert ist. Sie probieren dabei nichts Neues unter der Sonne, sondern ein altes Konzept des Berufsavantgardisten Bazon Brock aus den stumpfsinnigen 7oer Jahren: »Wechsle Deine Identität. Zerlege sie. Denn die Teile sind mehr als das Ganze«. Zur Vorbereitung & Erleichterung der Markteinführung einer biotechnisch vollendeten G-KLASSE finden solche postmodernen Balletproben statt. Freiwillig & lachenden Gesichts, wenn auch mit abgeschnittener Zunge, sollen die Subjekte ihre Zerlegung in bits and pieces noch als Glück erfahren: als Funktions-Objekte für den Fatalismus eines omnipräsenten Marktes. Zur Verdunkelung der Geschichte & zur Zerstörung von Klassenbewußtsein heute.

Jozef Conrad


Utopien sind machbar

Utopien erweisen sich als weit realisierbarer, als man früher glaubte. Und wir stehen heute vor einer auf ganz andere Weise beängstigenden Frage: Wie können wir ihre endgültige Verwirklichung verhindern?.... Utopien sind machbar. Das Leben hat sich auf die Utopien hinentwickelt. Und vielleicht beginnt ein neues Zeitalter, ein Zeitalter, in dem Intellektuelle und Gebildete Mittel und Wege erwägen werden, die Utopien zu vermeiden und zu einer nichtutopischen, einer weniger "vollkommenen" und freieren Gesellschaftsform zurückzukehren.

(Nikolai Berdjajew)


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