Galanthus Nivalis Agglutinin (GNA): Schneeglöckchenlektin. Wer Arpad Pusztai in seinem Granitsteinhaus im schottischen Aberdeen begegnet, trifft den Mann, der den neuesten Schock in der Gentechnikdebatte ausgelöst hat – mit Forschungen über Kartoffeln, denen das Gen für das Schnee-glöckchenlektin verpflanzt worden ist, um sie mit diesem Eiweißstoff besser vor Schadinsekten zu schützen. Aufwendige Fütter-ungsversuche mit einer bisher nur im Labor gezüchteten Genkartoffel haben Pusztai überzeugt, daß es bei den Zulassungsverfahren für gentechnisch veränderte Lebensmittel gravierende Testlücken gibt. »Hätte ich die Wahl, würde ich gentechnisch veränderte Lebensmittel sicher nicht essen.« Die Käufer werden als Versuchskaninchen benutzt. Pusztai kannte die Zulassungsunterlagen für gentechnisch veränderte Mais- und Sojapflanzen, die seit 1996 von den europäischen Behörden zum Verzehr freigegeben wurden. Fütterungsversuche mit Ratten, wie er sie gemacht hatte, suchte er dort vergeblich. Die Behörden hatten sie nicht für notwendig erachtet. Er wollte das Testdefizit öffentlich zur Diskussion stellen. Zwei Tage später war Pusztai seinen Job los. Von seinem Arbeitgeber, dem Rowett-Institut, wurde er als verirrter Forscher bloßgestellt und juristisch zum Schweigen verdonnert. Sein Labor wurde geschlossen. Er habe lediglich bewiesen, daß eine Pflanze eben Gift für Ratten sei. Im Februar 1999 erklärten dann überraschend 23 internationale Wissenschaftler in einem Memorandum, Pusztai sei Unrecht geschehen. Der Streit um »Frankenfood» trieb sogar Prinz Charles und Tony Blair in eine Kontroverse. Nirgendwo sonst ist Genfood so sehr ein regulärer Küchenbestandteil wie in England und den USA. Als Pusztai die Fütterungsversuche mit transgenen Kartoffeln begann, war dieses Projekt Teil eines umfassenden Forschungsprogramms mehrerer Institute. Die Wissenschaftler wollten Lektin-Gene suchen, die Pflanzen eine Resistenz gegen Insekten und Würmer verleihen und »keine Gesundheitsgefahren für den Menschen bewirken«. Vielversprechend für eine Resistenzübertragung galt das Schneeglöckchenlektin (GNA). Der Eiweißstoff schützt nicht nur Schneeglöckchen, sondern nach einem Gentransfer auch Tabak und eben die Kartoffel vor beißenden und saugenden Schadinsekten. Die Idee nahmen mehrere Firmen auf und rüsteten Sonnenblumen, Kohl, Kartoffeln und andere Nutzpflanzen im Labor gentechnisch mit dem GNA aus. Einige dieser Genpflanzen wurden auch im Freiland getestet – unter anderem in den Niederlanden und den USA. Auch der Schweizer Saatgutriese Ciba-Geigy (Novartis) erprobte 1994 das GNA-Gen in einem Freilandversuch mit gentechnisch verändertem Mais. Das Ziel von Pusztais Forschung war, Daten zu sammeln, um die Behörden von der Unbedenklichkeit GNA-haltiger Genkartoffeln zu überzeugen. Um die Wirkung von GNA auf den Verdauungstrakt und das Immunsystem zu studieren, verabreichte er den Nagern nicht nur rohe, gekochte und gebackene transgene Kartoffeln, sondern auch eine herkömmliche Kartoffelsorte und die gleichen Knollen mit künstlich zugesetztem GNA. Dann kam die Überraschung: Nicht das reine Lektin selbst, sondern ausgerechnet die GNA-produzierenden Genkartoffeln ließen die Organe von Testratten um etwa 10% schrumpfen und reizten deren Immunsystem zu entzündlichen Reaktionen in Magen und Darm. Diese negativen Resultate fanden sich bei Tests, die zuvor mit keiner transgenen Pflanze unternommen worden waren. Über die Frage, warum nur die lektinhaltigen Genkartoffeln, nicht aber das Lektin selbst schädliche Wirkung zeigten, streiten seither die Gelehrten. Womöglich hat der Einbau des fremden Genkonstrukts den Stoffwechsel der Kartoffel auf unbekannte Weise irritiert. Die Sorte wäre nach der gentechnischen Manipulation nicht mehr die gleiche wie zuvor, sondern produzierte als Folge des Eingriffs plötzlich toxische Substanzen. Oder die Steuerse-quenzen des Genkonstrukts selbst verändern auf rätselhafte Weise die Wirkung des GNA in der Pflanze. Da ähnliche Steuersequenzen etwa auch in der Gensoja eingesetzt wurden, hält der New Scientist dieses Risiko für »beunruhigend«. Pusztai: Die Folgen des gentechnischen Eingriffs auf die Pflanze sind nur bedingt vorhersehbar. Die einzige Möglichkeit, unerwartete Effekte vor ihrer Zulassung aufzuspüren, seien sorgfältig geplante Fütterungsversuche mit den gentechnisch veränderten Pflanzen. Die sind jedoch bisher weder vorgeschrieben, noch werden sie systematisch von den Herstellern angewandt. Daß diese Praxis gesundheitsbedenklich sein könnte, ist der eigentliche politische Sprengstoff.
Bei den bisher in Europa zugelassenen Genpflanzen (Mais, Soja) ging man bei der Bewertung der Unbedenklichkeit nach dem folgenden Grundsatz vor: Zunächst wird experimentell untersucht, ob das eingebaute Protein toxikologisch unbedenklich ist. Ergeben sich dabei keine Hinweise auf Gesundheitsgefahren, wird geprüft, ob der Gehalt an wichtigen Inhaltsstoffen gleichwertig ist gegenüber herkömmlichen Sorten. Zentral ist in diesem Zusammenhang das von der OECD entwickelte Konzept der »substantiellen Äquivalenz«. Es besagt, daß die Eigenschaften eines gentechnisch veränderten Organismus (GVO) gleichwertig sein müssen im Vergleich zum »normalen« Produkt. Ist das der Fall und gilt das eingeführte Fremdprotein als gesundheitlich unbedenklich, dann halten die Behörden arbeitsintensive Fütterungsversuche für unnötig. Ein Beispiel dafür ist der transgene Mais von Novartis, der gemäß den Zulassungsunterlagen nicht in aufwendigen Fütterungsversuchen getestet wurde. Aus Studien mit hohen Toxin-Dosen an Säugern und aus anderen Daten gehe hervor, daß das im Mais enthaltene Insektengift des Bacillus thuringiensis (Bt-Toxine) für Säugetiere unbedenklich sei. Für Pusztai dagegen ist es »unverständlich«, warum solche Pflanzen nicht denselben Tests wie die Lektinkartoffeln unterzogen wurden. In der Debatte um die Genkartoffel ist ein unscheinbarer Punkt bisher gar nicht aufgefallen: In dem offiziellen Report über Pusztais Arbeiten behaupten die Gutachter – einer ist Mitglied des EU-Zulassungsausschusses für GVO –, die herkömmliche Kartoffelsorte sei mit der Lektinkartoffel »substantiell äquivalent«. Doch die Daten zeigten das Gegenteil, meint Pusztai: Durch den Eingriff seien die Pflanzen nicht mehr in allen Inhaltsstoffen gleichwertig. Was wie ein harmloser Forscherstreit klingt, hätte bei einer Zulassung womöglich erhebliche Konsequenzen: Wenn ein Hersteller zeigen kann, daß ein Nahrungsmittel substantiell äquivalent ist, gilt es fortan als sicher. Weitere toxikologische Prüfungen sind dann nach den Empfehlungen des Lebensmittelausschusses der EU »nicht erforderlich«. Nach welchen Inhaltsstoffen aber in einer Pflanze gesucht werden muß, um Gleichwertigkeit zwischen Natur- und Laborprodukt nachzuweisen, ist Ermessenssache.
Solches »Herbeireden« von Gleichwertigkeit will Pusztai nicht gelten lassen. »Wer nur auf die Zusammensetzung der Pflanzen schaut und keine gut geplanten ernährungsphysiologischen und toxikologischen Fütterungsversuche durchführt, der wird Überraschungen erleben.«