Die Wut der Verzweiflung

Große Demonstrationen der TextilarbeiterInnen in Bangladesch

20.11.2013   Lesezeit: 3 min

In Bangladeschs Industriestädten kämpfen Tausende um einen gerechten Mindestlohn. Trauer und Wut über die Toten von Rana Plaza und Tazreen Fashion.

Seit Tagen liefern sich Zehntausende Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter in den Industriestädten Savar und Ashulia Straßenschlachten mit der Polizei. Wie uns medico-Partner Kasheful Hoda vom Research Institute for Social Equity (RISE) mitteilt, hat die Polizei dabei gestern zwei Demonstranten erschossen, 50 weitere erlitten schwere Verletzungen. „Die Vorgänge sind wirklich nervenaufreibend“, sagt Kasheful Hoda. „Die Arbeiterinnen und Arbeiter sind unorganisiert, kämpfen ohne Führer, folgen allein ihrem gemeinsamen Anliegen.“

Die Proteste des gestrigen Tages entzündete sich nach dem tätlichen Angriff eines Fabrikmanagers auf eine Arbeiterin: binnen kurzem sammelten sich weit über 10.000 Menschen vor der Fabrik, stürmten das Haupttor und verwüsteten mehrere Produktionssäle. Unter den kurz darauf eintreffenden Polizeiverbänden waren auch Einheiten der berüchtigten Bangladesh Border Guard, die versuchten, nicht nur die Fabrik, sondern auch die umliegenden Straßenzüge unter ihre Kontrolle zu bringen. Die „Sicherheitskräfte“ setzten Schlagstöcke, Tränengas und Gummigeschosse ein; wenigstens 6 Personen, darunter ein neunjähriger Junge, erlitten Schusswunden. Die Arbeiter und Arbeiterinnen verteidigten sich mit Steinwürfen.

Welle von Protesten

Hintergrund sind die derzeit laufenden Verhandlungen über eine Erhöhung des Mindestlohns. Während der Unternehmerverband BGME sich infolge der massiven Protestbewegung zwischenzeitlich mit einer Erhöhung des bisherigen Lohns von 3000 auf nunmehr 5300 Thaka (ca. 50 Euro, Erhöhung um über 70%) einverstanden erklärt hat, bestehen die Arbeiter nach wie vor auf der Verdopplung des Lohns. Die zugesagte Erhöhung auf 5300 Thaka bedeutet, dass das Einkommen der Arbeiterinnen und Arbeiter trotz einer Sechstagewoche und einer Tagesarbeitszeit von bis zu 14 Stunden nach wie vor bei der Armutsgrenze von 2 Dollar (1, 40 €) täglich verharren würde. „Den Arbeitern geht es dabei nicht nur um die Höhe ihres Einkommens“, sagt Kasheful Hoda, „sondern auch die Umsetzung der Vereinbarung. Gesetze zum Mindestlohn und überhaupt zu den Arbeitsbedingungen werden von den Unternehmen in der Regel schlicht ignoriert.“

Die gestrigen Demonstrationen waren die bislang härtesten in einer ganzen Serie von Protesten nicht nur in Savar und Ashulia, sondern auch in der nahegelegenen Hauptstadt Dhaka. Zur ersten Welle von Demonstrationen kam es in der letzten September- und ersten Oktoberwoche. Die gestrige Demonstration war die bislang letzte von einer jetzt bereits seit mehreren Tagen anhaltenden Folge, die in Savar den Stadtteil Hemayetpur, in der Zwillingsstadt Ashulia die Stadtteile Jamgarh, Shimultola, Gorat, Pukurpar, Ghoshbagh and Narshinghpur betrafen.

In der großen Kampfbereitschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter artikulieren sich auch die Wut und Trauer über die beiden großen Industriekatastrophen der letzten Monate, dem Brand bei Tazreen Fashion in Ashulia (über 100 Tote) und dem Zusammensturz des Fabrikkomplexes Rana Plaza in Savar (1250 Tote, weit über 2000 Verletzte). Beide Fabriken arbeiteten ausschließlich im Auftrag internationaler Unternehmen, von den in Deutschland vertretenen Unternehmen prominent der Discounter KiK sowie Labels wie Primark, Benetton, C&A und viele andere. Bis heute verschleppen die Unternehmen die deshalb auch nach wie vor ergebnislos gebliebenen

Entschädigungsverhandlungen. Die Mehrheit der überlebenden Arbeiterinnen und Arbeiter ist seither einkommenslos, Hunderte sind mittlerweile aus ihren ärmlichen Wohnungen geräumt worden. Besonders dramatisch ist die Lage der Schwerverletzten, denen in der Regel keine Folgebehandlung gewährt wird.

Arbeiterorganisation in Bangladesch stärken

medico unterstützt in Bangladesch das Research Institute for Social Equity (RISE), das sich momentan auf die Unterstützung der Überlebenden von Rana Plaza und ihres Anspruchs auf Entschädigung konzentriert. Auf ihrer Website stellt RISE nicht nur fortlaufend aktualisierte Berichte, sondern auch Hintergrundinformationen zum Kampf um den Mindestlohn wie überhaupt zur Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter bereit. Der zweite medico-Partner Gonoshasthaya Kendra (GK) führt im Wohnviertel der Überlebenden ganztägige medizinische Camps durch, bei dem ein 30-köpfiges Team pro Camp etwa 200 Patientinnen und Patienten orthopädische und physiotherapeutische Behandlungen anbietet. Darüber hinaus hat GK in seinem Krankenhaus in Savar die medizinische Folgebehandlung von 50 besonders schwer verletzten Rana Plaza-Überlebenden übernommen. Politisch kooperiert medico außerdem mit der National Garment Workers Federation (NGWF), einer der wichtigsten Gewerkschaften der Textilarbeiter.


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