Die Zähne zeigen

Psychosoziale Arbeit nach Krieg und Diktatur

26.08.2000   Lesezeit: 8 min

Fragmente der medico-Tagung im Juni in Mainz

Ntombi Mosikare ist eine freundlich runde Frau aus Südafrika. In festen Schuhen und weitem Kleid strahlt die Mittdreißigerin eine bodenständige Sicherheit aus, daß man glaubt, sich gut und gerne unter ihre Fittiche begeben zu können. Daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben Südafrika verlassen hat, steht im Gegensatz zu ihrem selbstbewußten und überzeugenden Auftreten vor deutschem Publikum auf der von medico organisierten Mainzer Tagung »Psychosoziale Arbeit nach Krieg und Diktatur« im Juni 2000. Ntombi Mosikare gehört zu den Führungsfrauen der Khulumani-Selbsthilfegruppen, die im Zusammenhang mit der Wahrheitskommission entstanden sind: »Man hat uns Glauben gemacht, daß mit unserer Aussage vor der Wahrheitskommission auch unser Anspruch auf Entschädigung sehr schnell realisiert würde. Niemals hätten wir uns vorgestellt, daß wir selbst für eine Übergangszahlung so viel kämpfen müßten.« Die Enttäuschung darüber, daß eine ANC-Regierung versucht, die Aufarbeitung der Apartheid so schnell wie möglich für beendet zu erklären, ist mehr als politische Frustration. Für die Opfer steht sie im Kontext mit ihren traumatischen Erlebnissen unter der Apartheid und weckt so ganz andere Gefühle. Etwas davon vermittelt Frau Mosikare dem Publikum, denn ihrem Vortrag fehlt der routinierte Ton des Vergangenheits-Aufarbeitungs-Jargons. »Wir waren sehr wütend. Denn es sah so aus, als würden wir nichts von dem bekommen, was uns versprochen wurde.« Dann hätte das Ergebnis der Wahrheitskommission gelautet: »Die Verbrecher erhalten Amnestie. Die Opfer erhalten nichts.« Daß sich diese Wut in Taten umsetzt (siehe Khulumani Projekt), trägt dazu bei, daß das Regieren in Südafrika nicht zu einem einseitigen Prozeß von oben nach unten degeneriert. Die Erfahrung von öffentlicher Wirksamkeit läßt Raum für wachsendes Selbstbewußtsein. Als Ntombi Mosikare das Erstaunen des Publikums über ihr Engagement spürt, sagt sie verschmitzt: »Nicht daß Sie denken, wir wären eine politische Partei.« Und fügt mit allem Ernst hinzu: »Aber wir sind parteilich auf Seiten der Opfer, und zwar aller Opfer.«

Die Mischung aus Authentizität und Professionalität, aus Betroffenheit wie Betroffensein und kritischem, reflektiertem Blick auf die eigene Arbeit und das eigene Schicksal zeichneten die Interventionen auf der Mainzer Tagung aus. Auf diesen beiden Schienen bewegte sich auch die Verständigung zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die vornehmlich aus dem Süden kamen. In ihrer Arbeit beschäftigen sie sich mit den individuellen und sozialen Folgen von Gewalt, sei sie strukturell bedingt, durch den Staat ausgeübt oder durch Kriege hervorgerufen. In ihren Projekten bieten sie den Einzelnen Hilfe zum Über-Leben und kollektive Unterstützung, um den Betroffenen die Möglichkeit zum Handeln und politischen Eingreifen zu eröffnen. Die unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte machten aus dem Erfahrungsaustausch in Mainz manchmal eher ein Nebeneinander als ein Miteinander. Zentraler Punkt war die Kenntnisnahme anderer Erfahrungen, weniger der Austausch von Methoden psychosozialer Arbeit, die sich in jedem Kontext anders darstellen.

Vergleiche bieten sich dort an, wo sich die Formen der Gewalt ähneln. Chile und Südafrika zum Beispiel. In beiden Fällen beschäftigt sich die psychosoziale Arbeit mit den Folgen vertikaler staatlicher Gewalt, deren Natur in Mainz die Neurologin Paz Rojas von der chilenischen Menschenrechtsorganisation Codepu so beschrieb: »Die Gewalt ging von einer einzigen Richtung aus. Diese absolute Ungleichheit hatte unterschiedliche Folgen für das Innere der Personen. Das Feind-Konzept, zu dem eine bilaterale Beziehung gehört, wurde zerstört. Allein die Diktatur herrschte und übte einen grenzenlosen Staatsterrorismus aus.« Trotzdem scheinen sich die südafrikanischen Erfahrung im Umgang mit psychischer und sozialer Traumatisierung und die chilenische fast konträr gegenüberzustehen. Hier der Sieg der Apartheid-Gegner und die politische Ächtung des alten Systems, dort ein seltsamer Übergang von Diktatur zu parlamentarischer Demokratie, in der der Ex-Diktator bis zu seiner Verhaftung in Großbritannien ein angesehener und mächtiger Mann im Staat war. Hier ein Aufarbeitungsprozess, der die Opfer in aller Öffentlichkeit zu Wort kommen ließ und darauf angelegt war, politische und nationale Identität zu stiften, dort ein eher im Stillen geschriebener Rettig-Report, der die Verbrechen benennt, aber den Opfern die gesellschaftliche Anerkennung versagt und die massenhafte Folter völlig außer Acht läßt. Auf den ersten Blick scheinen nicht nur die Ausgangslagen in beiden Ländern höchst unterschiedlich, sondern auch die Prozesse, in denen die diktatorische Vergangenheit auf individueller wie auf politisch-gesellschaftlicher Ebene verarbeitet wird. (Siehe auch unser Chile-Dossier.)

In Südafrika stellen die Opfergruppen, allen voran die Khulumani-Gruppen, den Kampf um Entschädigung in den Mittelpunkt. Das liegt nicht allein daran, daß die Opfer vielfach aus sozial marginalisierten Schichten stammen. Mit einer Entschädigungszahlung ist vor allen Dingen die Hoffnung auf gesellschaftliche Anerkennung der Leiden verbunden und letztendlich auf Heilung im Sinne einer Aussöhnung mit der eigenen Verfolgungsgeschichte. Brandon Hamber vom südafrikanischen CSVR (Centre for the Study of Violence and Reconciliation), das die Schaffung der Khulumani-Selbsthilfegruppen mitiintiert hat, bewertet auf der Tagung die Auseinandersetzung um die Entschädigungszahlungen: »Vielleicht war es unvermeidlich, daß die Opfer die Arbeit der TRC (Truth and Reconcialiation Commission) als nicht wirklich erfolgreich ansehen würden. Wenn man das Ganze allein vom psychologischem Standpunkt aus betrachtet, ist es unmöglich, all den verschiedenen Formen von Schmerz und von Verlustgefühlen, die die Überlebenden der Gewalt empfinden, gerecht zu werden. Viele Mitglieder von Khulumani würden wahrscheinlich trotzdem sagen, daß es ungeheuer positiv war, daß zumindest ihre Geschichten publiziert wurden. Damit wurden sie Teil der Geschichtsschreibung. Und man würde sie in Zukunft nie mehr verleugnen können. Diese positiven Gefühlen werden aber häufig von dem Zorn der Opfer über den Amnestie-Prozeß und ihre Enttäuschung über die niedrigen Entschädigungszahlung unterminiert. Heute muß man sagen, daß für viele Überlebenden der Kampf solange weitergeht, solange keine Entschädigungen gezahlt werden und die Täter weiter frei herumlaufen.«

Wenn in Südafrika den Entschädigungszahlungen eine Heilungsdimension zugewiesen wird, so ist es im Chile der Postdiktatur die juristische Aufarbeitung der politischen Verbrechen und insbesondere die Verurteilung von Diktator Pinochet. Paz Rojas beschreibt, wie sich die politische Entwicklung nach dem Ende der Diktatur auf die Opfer der Repression in verheerender Weise auswirkte: »Wir mußten feststellen, daß die Haltung der neuen Macht in der sogenannten ›Übergangsperiode zur Demokratie‹ wiederum fatale Folgen hatte: Zu der Zeit des Angst-Schmerzes (gemeint ist die Diktatur d. A.) kam nun eine Zeit der Sinnlosigkeit, der Verwirrung, der Bitterkeit, der Scham hinzu. Das betraf nicht nur die Individuen, sondern auch wichtige Teile der Gesellschaft. Die Haltung der Macht bestand eben nicht darin, die traumatische Vergangenheit zu überwinden, sondern im Gegenteil in der Akzeptanz einer ›Scheindemokratie‹, im Zwang zu vergessen und die Erinnerung wegzusperren. Gleichzeitig akzeptierte man, daß der Hauptverantwortliche, in dem sich alle Aggressoren symbolisch vereinigten, in eine Ikone, ja fast in eine patriarchalische Kultfigur des Militärs und der chilenischen Rechten verwandelte. Die Macht des strafenden Vaters erstand wieder auf, als man zuließ, daß Pinochet weitere 8 Jahre oberster Kommandant der Streitkräfte blieb, später Ehrengeneral, Senator auf Lebenszeit, ja unsterblich wurde.« Als Pinochet in Großbritannien verhaftet wurde, hätten die meisten Opfer der Diktatur eine »unbeschreibliche Freude empfunden, wie sie sie seit Jahren nicht mehr in so intensiver Form erlebten. Paradoxerweise gab es Angehörige oder Überlebende, die sich zum ersten Mal der Tiefe ihres Traumas bewußt wurden und um psychotherapeutische Hilfe nachsuchten. Als hätte erst die Verhaftung Pinochets ihnen möglich gemacht das zu sagen, was sie über viele Jahre unterdrückt und negiert hatten.«

Da schließt sich die Frage an, ob sich mit einer Verurteilung von Pinochet oder der Zahlung von adäquaten Entschädigungen in Südafrika das Problem mit der Vergangenheit erledigen wird? Die Hoffnung, daß es eine »vorstellbare Grenze gäbe, hinter der die Beschäftigung mit der Vergangenheit abgeschlossen sein würde«, haben auch die Opfer, so Brandon Hamber. In Südafrika habe man sie mit dem Slogan »revealing is healing – aussagen ist heilen« zur Mitarbeit bei der Wahrheitskommission aufgefordert. Später habe sich herausgestellt, daß die Annahme verkehrt war, »Menschen würden sich besser fühlen, nachdem sie die wahren Begebenheiten erzählt hatten.« Solange die Opfer mit den Folgen zu tun haben, so Hamber, gebe es kein Ende der Vergangenheitsdiskussion. Eine Schlußfolgerung, die für die Arbeit in Chile, Guatemala oder Namibia genauso zutrifft. Die Gefahr aber sei, so der südafrikanische Psychologe, daß »psychosoziale Programme die weichgespülte Endversion von Befreiung und Wandel« würden. Das ließe sich nur verhindern, wenn die Projekte auch zeigten, daß sie über scharfe Zähne verfügten. Angesichts der politischen Entwicklung in Südafrika und Chile kann man dies den Projekten wohl auch bescheinigen.

Katja Maurer

Die Diskussion und der Erfahrungsaustausch unter den Projektpartnern, aber auch mit medico geht weiter. Die Tagungsteilnehmer selbst bleiben über Internet in Kontakt. Geplant ist unter anderem eine Website, auf der Kontakte und Erfahrungen ausgetauscht werden.

Wer sich für die psychosoziale Arbeit von medico interessiert und weitere Informationen erhalten möchte, kann sich in den psychosozialen Verteiler aufnehmen lassen (per e-mail, fax oder telefonisch). Wer die Projektarbeit und die Vernetzung finanziell unterstützen will, kann dies tun unter dem Stichwort: »Salud Mental«.

Bestellen Sie schon jetzt die Dokumentation mit Ergebnissen und Aussichten der Tagung »Psychosoziale Arbeit nach Krieg und Diktatur, die im Herbst als medico-Report erscheinen wird.


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