Editorial

18.08.2006   Lesezeit: 3 min

Liebe Leserinnen und Leser,

die Zeiten, in denen wir leben, sind offenbar voller Gefahren. Im Umgang mit den gesellschaftlich bedingten Risiken macht sich Angst breit. Ängste vor Infektionen, vor Überfremdung und einem vermeintlichen „Kampf der Kulturen“. Journalisten, Politiker, alle warnen unablässig vor den neuen Bedrohungen und fast immer ist das Wissen um das Geschehen dem Geschehen selbst voraus. Aufklärung tut not, aber entpuppt sich bei näherer Betrachtung allzu oft als Panikmache. Die begründete Sorge um Fehlentwicklungen schlägt in Hysterie um. Von einer „kulturellen Infektion“ spricht der Schweizer Kulturwissenschaftler Philipp Sarasin und beschreibt in seinem Buch „Anthrax. Bioterror als Phantasma“ die Medien als eine Art erweiterten Wirt. Grassiert ein Erreger in den Medien, wird er zur Seuche und begründet so eines der zentralen Phantasmen unserer heutigen Gesellschaft: Die Vorstellung vom „Feind als Mikrobe“, von der Gleichsetzung des Fremden mit einem todbringenden Fremdkörper. Nur auf der Grundlage eines solchen Trugbildes ist es möglich, dass Ereignisse, die an sich nichts miteinander zu tun haben, dennoch als zusammengehörig empfunden werden: das Vorrücken neuer Plagen wie der Vogelgrippe, die Vermutung von Massenvernichtungswaffen dort, wo es sie gar nicht gibt, Flüchtlingsbewegungen, Terror und Fundamentalismus.

Aus der gedanklichen Verbindung von realen mit vermeintlichen Risiken resultiert eine Politik, die - wie in längst überwunden geglaubten Zeiten - auf den Cordon sanitaire setzt, die schützende Abschottung des Eigenen vor dem Fremden. Die mit dem Globalisierungsprozess entstandenen Risiken dienen als Legitimation neuer Ausgrenzungsstrategien, einer „Politik der Seuchenkontrolle“, die Gesundheit nicht mehr im Kontext ihrer sozialen Grundlagen sieht, sondern als ausschließlich medizinische Frage, als Frage des Schutzes vor Ansteckung. Derart verkümmert öffentliche Gesundheitsvorsorge zu einer imperialen Immunologie. Wer das Stigma der Armut trägt, trägt auch den Erreger.

Dass sich eine solche Politik bedauerlicherweise längst umzusetzen beginnt, davon berichtet unser indischer Kollege Satya Sivaraman. Er befürchtet, dass der allgegenwärtige Sicherheitsdiskurs des Westens sich die aktuellen Ängste vor dem Virus der Vogelgrippe längst zunutze gemacht hat. Mit den unheimlichen Massenphänomenen, die mit der gegenwärtigen Polarisierung der Weltverhältnisse einhergehen, beschäftigte sich auch Paul Parin, der uns ein ausführliches Interview gab. Selbstverständlich geht es dabei auch um die Möglichkeiten eines Dagegenhaltens. Beispielsweise mit einer Kampagne, die dafür streitet, die Entwicklung von Arzneimitteln an bestehenden Gesundheitsbedürfnissen auszurichten. Das medico eng verbundene People´s Health Movement hat sein künftiges Sekretariat in den Nahen Osten verlegt. Und dies nicht aus Trotz oder symbolischer Reaktion gegenüber aktuellen Aufgeregtheiten, sondern weil die globale Gesundheitsbewegung von unten in Ägypten, dem Libanon und Palästina schon immer starke und wichtige Partner hatte. Das Ziel ist eine „Zukunftsvorsorge“, die sich nicht von Phantasmen und Renditedenken leiten lässt.

Zwei Dinge sind dafür unerlässlich: eine Wissensproduktion, die von partikularen Interessen weitgehend unabhängig ist, und eine Öffentlichkeit, die sich von der medialen Panikmache nicht irremachen lässt. Gefragt ist rationale Politik, die auf Ausgleich setzt und sich jedweder „Biologisierung“ versagt.

Herzlichst Ihr Thomas Gebauer


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