Liebe Leserinnen und Leser,
immer wieder habe er laut vor sich hin gesprochen: "in die entgegengesetzte Richtung". So beschreibt der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard den Moment, da er als 16jähriger entschied, das Gymnasium zu verlassen und eine Lehrstelle in einem heruntergekommenen Gemischtwarenladen im ärmsten Viertel Salzburgs anzutreten. Auf den Seiten 16 und 17 [s. Druckausgabe] veröffentlichen wir einen kurzen Auszug aus seinem Text "Der Keller. Eine Entziehung". Das Bild darüber zeigt erkennbar nicht die Scherzhauserfeldsiedlung, von der Bernhard spricht, sondern ein Elendsviertel von Rio de Janeiro. Denn Bernhard beschreibt am Beispiel der Siedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen im Nachkriegssalzburg die Mechanismen der Ausgrenzung. Dazu gehören unter anderem Ignoranz, Vorurteile und totales politisches Versagen der Eliten. So gerät sein autobiographischer Bericht aus dem Keller weniger zu einer Beschreibung des Lebens am Rand als zu einer schonungslosen Kritik der etablierten Gesellschaft. Auch wenn die Scherzhauserfeldsiedlung in Salzburg heute kein Synonym für Ausgrenzung mehr ist, behält Bernhards Buch seine universelle Gültigkeit für all jene Regionen, die als Orte der "Anderen" und allzuhäufig als "Hort des Bösen" konstruiert werden.
Auf seine Weise beschäftigte sich das Symposium der stiftung medico international Anfang Juni diesen Jahres unter dem Titel "Der Andere als Sicherheitsrisiko" mit dem Bernhard'schen Thema. Die beiden Redebeiträge, die wir auf den Seiten zuvor in Auszügen publizieren, sind dabei ausgehend von den jeweiligen politischen Gegebenheiten ebenso universelle Lehrstücke darüber, wie Exklusion gemacht und aufrechterhalten wird. Der israelische Historiker Moshe Zimmermann beschäftigt sich mit dem "Verrat der Intellektuellen", der mit der Globalisierung zu einem weltweiten Phänomen geworden sei. Denn wer die Ideen einer "kollektiven Identität" übernehme, der verrate die Ideen der Aufklärung, so Zimmermann. Diese konstruierten kollektiven Identitäten dienten vorzugsweise dazu, neben dem "Wir" die "Anderen" zu konstruieren und zu definieren. Solange noch die Möglichkeit eines Austauschs bestehe, könne das "Wir" und die "Anderen" noch in Frage gestellt werden. Werden aber 8 Meter hohe Mauern wie zwischen Israel und Palästina gebaut, dann werden die Konstrukte in Zement gegossen. Wie sich das in einer Gesellschaft wiederfindet, deren Eliten die Tradition von Rassismus und Sklavenhaltermentalität nicht wirklich hinter sich gelassen haben, analysierte auf dem Symposium die brasilianische Kriminologin Vera Malaguti. Hier wie dort spielt dabei die von ihr analysierte "soziale Konstruktion der Angst", die die Privilegierten gegen die vermeintliche Gefährdung durch die "vom Konsumismus Ausgeschlossenen" zusammenschweißt, eine maßgebliche Rolle. Und immer fallen dabei "demographische Argumente", die man auch aus der deutschen Debatte kennt. Dass sich medico solcher Themen annimmt und diese immer stärker mit innenpolitischen Diskussionen verknüpft sieht, kann angesichts sich universalisierender Politikmuster nicht verwundern. Die Debatten auf dem Symposium spiegelten dies und förderten überaus interessante Parallelen zutage. Wer sie nachlesen beziehungsweise nachhören will, kann bei medico eine Audio-Fassung und die vollständigen Redebeiträge bestellen.
Tun aber können Sie etwas für die, die "in die entgegengesetzte Richtung" gehen. Aktuell bitten wir um Spenden für die Arbeit unserer Partner in Israel, die dringend benötigte Medikamente und medizinische Geräte in die palästinensischen Gebiete bringen. Erste Hilfslieferungen sind eingetroffen. Wie das geschehen ist, dazu lesen sie den Brief aus Tel Aviv.
Herzlichst Ihre Katja Maurer