»Freiheit oder Solidarität«?
»Da aber sprach der König zu den Brüdern: ‚Ich danke euch, ihr habt mich gespeist, wenn mich hungerte; mich getränkt, wenn mich dürstete, mich bekleidet, wen ich nackt war und habt mich besucht, wenn ich im Gefängnis lag.’ – Da antworteten ihm die Gerechten (verwundert): ‚Wann je, HERR, hätten wir dich gespeist, wenn du hungrig warst, wann dich getränkt, wenn dich dürstete, dich bekleidet, wenn du nackt warst – und wann dich besucht, wenn du ihm Gefängnis lagst?’ – Christus antwortet ihnen und sprach: ‚Wahrlich, ich sage euch, was ihr aber getan habt dem Geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir getan.«
»Das Moderne ist wirklich unmodern geworden. Modernität ist eine qualitative Kategorie, keine chronologische.«
(Adorno, Consecutio temporum (1946/47), »Minima moralia«
Das Lehrstück, das hier den gutmenschlichen Gerechten verpaßt wird, fundiert den judäo-christlichen Gerechtigkeitsbegriff. Nicht auf Almosen für die Geringsten wird plädiert, sondern es ereignet sich die ausdrückliche Divinisierung des Opfers: der Allerunterste steht auf gleicher Stufe mit dem Gottessohn. Die messianische Solidarität, die mit den Christus-Worten begründet wird, bedeutet ein moralisches Prinzip der Einseitigkeit: Gerechtigkeit ohne Erwartung einer Rückgabe. Da aber keiner ausgeschlossen ist, gilt sie für alle. Gütermärkte beziehen nur den ein, der auf ihnen etwas zu bieten hat. Alle andern bleiben außen vor. Umverteilung und milde Gaben lösen das Problem auch hier nicht. Eher vergrößern sie noch das Problem zwischen dynamischen und desolaten, abhängigen Gesellschaften. Die Hoffnung, daß die Welt über Waren, Geld, Kommerz zu einer friedlichen und gerechten zusammenwachse, enthält eine große Illusion. Am Ende könnte allen (reichen) Europäern der Süden entgegenkommen: Armut und Hitzetod. Gekleidet in die Worte von der Wahl zwischen »Freiheit oder Solidarität«. Das Diktum Kanzler Schröders meint Aufhebung der staatlichen Solidargemeinschaft. »Ohne Rente leben« (Focus). Aber auch die ersatzweise angebotene »Freiheit« der privaten Vorsorge verspricht keine Sicherheit: Staatsanleihen und Rentenfonds bieten keinen Schutz vor kollabierenden oder auch nur schwachen Börsen. Das Programm des »Abschieds von der (sozialdemokratischen) Verteilungsgerechtigkeit« (Olaf Scholz) legitimiert ideologisch unter den Bedingungen historisch nie dagewesener Produktivität und wissenschaftlich-technischen Standards systematisch erzeugte Armut und Ausschluß. Die »Ich-AG’s« bedeuten den modernen Tagelöhner, die »zumutbare Arbeit« läßt Zwangsarbeit Wirklichkeit werden, der Befehl (Minister Clement), »nicht versicherungspflichtige Arbeitsplätze für Arbeitslose« vorzuschreiben, führt geradenwegs in den Verlust von medizinischer Versorgung und sozialer Alterssicherheit.
Am Jenseits sozialer Absicherung werden Millionen Menschen nur als unproduktiver Ausschuß behandelt werden: Alte, Arbeitslose, Arme, Unangepaßte. Sämtlich schmarotzende Kostenverursacher. Vor 5 Jahren schon hatte ein deutscher Ärztepräsident (SPIEGEL 33/2003) vom »sozialverträglichen Frühableben« gesprochen – die Schweizer Akademie für Medizinische Wissenschaften spricht vom »Einstieg in das Töten als medizinische Dienstleistung«. Als »stilles Töten aus Kostengründen«, wie erklärend hinzugefügt wird. Unerbittlich tritt das Verfallsdatum menschlichen Lebens am Tag des Ausschlusses aus dem Produktivitätszusammenhang in Kraft.
Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens zwingt Mediziner wie neoliberale Sozialpolitiker zur Definition einer neuen Hauptaufgabe: Kriterien für den Ausschluß zu präparieren, die Selektion als vernünftig und menschlich erscheinen lassen. »Kein Hüftgelenk« mehr ab einem fixen Datum. Gerade weil die medizinische Wissenschaft das Leben nicht nur verlängern, sondern auch zu dessen Verbesserung und »Wohlbefinden« (Alma Ata) beitragen kann, soll und muß absurderweise der Fortschritt den Menschen vorenthalten sein. Daher sind partout die störenden Gedanken an Solidarität und Gerechtigkeit zur Strecke zu bringen. Mehr als 200 Jahre europäischer Sozialgeschichte, von demokratischer Arbeiterbewegung und ihren Gewerkschaften, die als Recht und Gesetz verankert wurden, werden zurzeit brutal außer Kraft gesetzt.
Die letzten modernen Gerechtigkeitstheorien wurden entworfen, als der Markt noch »funktionierte« und jede Krise pünktlich durch Aufschwung belohnt wurde. Der globalisierte Kapitalismus aber läßt die Kirche nicht im Dorf und bleibt nicht im Land, zahlt keine Steuern und denkt nicht mehr daran, den erwirtschafteten Reichtum umzuverteilen. Investition und Produktivitätssteigerungen schaffen keine neuen Arbeitsplätze, sondern vernichten nur weitere. Gerade jeglicher Konjunkturaufschwung läßt einen noch höheren Sockel an Arbeitslosigkeit zurück. In dieser unausweichlichen Lage ist das Erscheinen des Messias höchst unbestimmt & die Philosophen haben die Gerechtigkeit immer nur verschieden interpretiert. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, die Laufrichtung zu ändern und das Bild einer menschlichen Gemeinschaft zu entwerfen, in der nicht Gerechtigkeit durchgesetzt, sondern die Ungerechtigkeit vermieden wird. Der ganze Skandal von Demütigung und Überflüssigwerden, die Produktion von Ängsten, die Chancenungleichheit in Bildung und Medizin. Das alles ließe sich machen: wenn soziale Sicherheit vom Erwerbseinkommen entkoppelt würde. Wenn die »Bürgerinnen & Bürger« der Welt, ausnahmslos, eine ausreichende monatliche Grundsicherung erhielten. Großzügiges Startkapital für die Bildungskarrieren. Verbunden mit uneingeschränkter Partizipation auch an medizinischen Möglichkeiten. Gewiß, ohne eine Analyse des Kapitalismus und ohne Attacken gegen seinen Lauf, wird das schwer gehen. Das Gut aber der Menschheit heute ist gerade die im Niedergang begriffene Ware. Das besondere einer solchen Zeit – unserer Zeit – ist, daß gewissermaßen alle, alle Menschen dieser Erde, sich in der Position des Restes wieder finden. In der einer beispiellosen Verallgemeinerung der vom Nazarener eingangs beschworenen Situation. Der zielte mit seinen Worten möglicherweise auf ein Sozialforum der Menschheit. Um »unter den Merkmalen der neuen planetarischen Menschheit jene auszuwählen, die ihr das Überleben erlauben, die feine Scheidewand zu entfernen, die die schlechte mediale Öffentlichkeit von der vollkommenen Äußerlichkeit, die nur sich selbst mitteilt, trennt – das ist der politische Auftrag unserer Generation«.1 Ob das aber nicht »Revolution« erfordert, »bewaffneten Kampf«, »Sozialismus«? Walter Benjamin erzählt eine Geschichte, die er von Scholem hatte: »Es gibt bei den Chassidim einen Spruch von der kommenden Welt, der besagt: es wird dort alles eingerichtet sein wie bei uns. Wie unsre Stube jetzt ist, so wird sie auch in der kommenden Welt sein; wo unser Kind jetzt schläft, da wird es auch in der kommenden Welt schlafen. Alles wird sein wie hier – nur ein klein wenig anders.« Vorgestellt wird das Ereignis einer generellen Verrückung, wo Sinn und Grenzen der Dinge aus ihrem bisherigen funktionalen Zusammenhang gelöst werden – und sich danach sofort anders darstellen: Ware und Kapital, Lohn und Arbeit, Geld und Leben. Ein einziger Schleier vollkommen verzichtbaren Waren-Spektakels: lächerlich, unsinnig und menschenfeindlich. »Nur ein klein wenig anders« – das meint hier keinen Reformismus, sondern: der Kommunismus wäre unverzüglich neu erfunden.
Herzlichst
Ihr
Hans Branscheidt