Editorial

01.06.2002   Lesezeit: 2 min

Ich sehe dich in tausend Bildern,
Maria, lieblich ausgedrückt,
Doch keins von allen kann dich schildern,
Wie meine Seele dich erblickt.
Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel
Seitdem mir wie ein Traum verweht,
Und ein unennbar süßer Himmel
Mir ewig zu Gemüte steht.

Novalis, Romantiker

Leben auf eigene Faust

»Kindchenschema«: Abbildungen von kleinen Kindern, auch Tieren und sogar von Gegenständen, die diesem Schemabild entsprechen, lösen automatisch Aufmerksamkeit & Zuwendung aus, die mit emotionalen Eindrücken verbunden sind und in der Werbung eingesetzt werden können. Die Verhaltenspsychologie erklärt dies unter Hinweis auf die Existenz eines genetisch vorprogrammierten Schemas und eines synchron angeborenen Auslösemchanismus. Weit prägender als solche evolutionären Reste & folgenreicher als diese dürfte sich die Tendenz der Romantik ausgewirkt haben Kinder wie Frauen und Frauen wie Kinder darzustellen: madonnenhaft verklärt und unschuldig, absolut rein, desexualisiert und unerfaßt von Realität und Sozialisation. Ein Zustand der Exterritorialität, der jenen »süßen Himmel« (Novalis) apart einer fatalen Projektion verfügbar machte, die es gerade ermöglichte, die vermeintliche »Unschuld« von Frauen und Kindern ins Gegenteil der kulturellen Formung von stereotypen Menschenbildern zu transformieren: zu ihrer Unterdrückung und in durchaus kommerzieller Absicht. – Das klare Contra dieses Rundschreibens gegen das Falschbild madonnenhafter Süßlichkeit bei Frauen und unverbildetem Liebreiz bei Kindern richtet den Blick auf das real gegängelte Leben, das seiner romantischen Verzauberung so deutlich widerspricht. Uns imponiert die Autonomie des Childrens Ressource Center, unseres südafrikanischen Partners, der uns einmal mitteilte: »Wenn ihr uns Geld gebt, ist es gut, wenn nicht, gibt es uns auch!« Über CRC gibt es auch jene wundervolle Geschichte, daß die südafrikanische Regierung anläßlich einer Konferenz zu kindlicher AIDS-Erkrankung nicht wie erwünscht erwachsene Delegierte begrüßen konnte, sondern zwei CRC-Kinder, die beinahe der Tagung verwiesen worden wären. Die erwiesen sich als durchaus eloquente Vertreter ihrer Interessen und drückten der Versammlung ihren Stempel auf. Gewiß, die Jungen brauchen uns Erwachsene, und schon gar nicht sind diese aus ihrer Verantwortung zu entlassen, aber für was genau die Menschenkinder andere brauchen, überlassen wir nach Möglichkeit schon ihnen selber.

Herzlichst
Ihr
Hans Branscheidt

P.s.: Warum in diesem Heft nicht ausführlicher über das Childrens Ressource Center & seine Arbeit zu lesen ist? Zu viel, zu lang, zu gut. Schreiben Sie uns, wenn Sie mehr darüber wissen wollen und sagen uns auch, wie Ihnen dieses Heft gefallen hat. Ihrer Beachtung anempfohlen sind auch die 4 mittleren Sonderseiten von Lukas Einsele, dessen Projekt der künstlerischen Beschäftigung mit der Minenproblematik auch von medico gefördert wird.


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