»Was ein Verbrechen ist, wissen wir und wir wissens nicht. Was bestraft wird, ist ein Verbrechen, was ein Verbrechen ist, wird bestraft«. Nur tautologisch vermag der geltende Rechtspositivismus zu unterscheiden: er trennt niemals wirklich zwischen Verbrechen und Nichtverbrechen, zwischen Geschäft und Kriminalität. Recht ist Macht. Die Macht beruht auf einem Verbrechen. Für den Einzelnen ist jede Verurteilung eines anderen ein Freispruch. Wer schuldig ist, wird bestraft, also ist, wer nicht bestraft werden kann, unschuldig. Baudrillards Ansicht, illegaler Schwarzmarkt oder Schattenwirtschaft seien eindeutige Korrektive gegenüber dem kapitalistischen Kontroll- und Verbotssystem, bedarf selber einer zwingenden Korrektur: sobald sich das Verbrechen organisiert, wird es tendenziell Staat im Staate. Im heutigen Rußland sind die Parteien ohne Macht und die Mächtigen ohne Partei. Der Denktank der Heritage Foundation (USA) erkennt in der russischen Mafia nur kurzfristig ein Problem: »Sie sorgt durch Korruption für die rasche Durchsetzung neuer Strukturen und wirtschaftlicher Projekte im Kontrapunkt zur bürokratischen Staatsverwaltung und veralteten Rechtsbestimmungen. Hat sie sich bewiesen, wird sie neue Gesetze schaffen und zu deren Beachtung beitragen«. Das gesellschaftliche Verbrechen ist nicht anarchisch & ungebunden, es erfordert hohe Disziplin, Organisation und Verwaltung; gerade wer schwarze Kassen führt, benötigt die große Kunst subtiler Buchführung. Camorra & Mafia hatten schon immer die Struktur einer patriarchalischen Regierung detailliert nachgebildet: eigene Steuern und sogar eine eigene Gerichtsbarkeit. Die Symmetrie ist unverkennbar: US-Gangsterbanden der Moderne nannten sich professionell »Crime Syndikat« oder »Murder Incorporated«. Sie sind geartet nach dem Muster ihrer großen Vorbilder: Staat & Kapital. Die Crime-Society ist eine Parodie der politischen Verfassung, und umgekehrt. Al Capone sagte: »Ich bin Geschäftsmann und zu Geld gekommen, weil ich die Gesetze des Marktes erkannte. Das Land wollte Schnaps, ich habe ihn besorgt. Das ist alles«. Er glaubte einfach nur an das freie Spiel der Kräfte. Freie Bahn dem Tüchtigen – sich selber. Das Geheimnis des Erfolgs liegt immer auf dem Weg, der Leichen hinter sich läßt. Die heutigen Gangster investieren mit der gleichen Sorgfalt im Importgeschäft wie im Waffenhandel, in der Textilindustrie wie im Giftgasbetrieb, im Umweltschutz wie in der illegalen Entsorgung. Im Wort vom »Geldwaschen« noch ist die Chiffre ihres obersten Ziels verborgen: Integration ins allgemeine Leben des Geschäfts.
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In Frankreich ereignet sich ein großes Gerichtsverfahren, das sich beschäftigt mit der Unterschlagung von Entwicklungshilfegeldern, mit illegalem Waffenhandel und hochoffizieller krimineller Förderung völkermörderischer Regimes in Afrika. Keine Fiction, daß die Beteiligten untereinander mit Aliasnamen aus der Sphäre des Verbrechens kommunizierten: Der ELF-Aquitaine Afrika-Direktor Guelfi hieß »Dédé de Sardine«, das Vorstandsmitglied von ELF Le Floch-Prigent »Pink Floch«, der an allem beteiligte Mitterand Sohn Jean Christophe unter Anspielung auf seinen Vater »Papamadit«, Jaques Chirac läuft unter »Monsieur Iraq« – und der alle & alles schmierende Alfred Sirven war »Monsieur Alfred«. ELF Aquitaine ist beides zugleich: Ölkonzern und die wohl größte kriminelle Vereinigung dieser Zeit. Ihre nachweisliche Blutspur belegt die Verantwortung für die Völkermorde im Bereich der Großen Seen, beinhaltet im Kongo – unter schon früherer Zusammenarbeit mit den Belgiern – die Ermordung von Patrice Lumumba und zuletzt Laurent Kabila. Im Kriegsland Angola gab, der unabhängigen Wochenzeitung »Folha 8« vom 26. Juni 1999 zufolge, der Direktor von ELF Aquitaine, P. Timbart zu, daß sein »Vorgänger als Konzernchef in Luanda jahrelang für die UNITA-Rebellen Waffen illegal besorgt« habe. Das Beispiel bestätigt, wie lukrativ der fortgesetzte Krieg in Angola ist für die Spitzen der MPLA-Regierung, der UNITA um Jonas Savimbi als auch für Diamanten- und Erdölfirmen (Falcone Komplex) sowie ausländische Politiker, die auf Gehaltslisten der Konzerne stehen. Gerade die professionelle Institutionalisierung der Korruption machen ganz Afrika zu einem Eldorado für das organisierte politische Verbrechen. Eine Aufzählung dessen lohnt sich: In Rußland sind sämtliche bedeutenden Medien, der Aluminiumkomplex und die Gasförderung in den Händen von drei mafiotischen Clans. In Deutschland werden schwarze Kassen gelüftet, deren Erträge aus illegalen Waffengeschäften stammen. BRD-Wissenschaftler lassen in St. Petersburg in Deutschland verbotene Keimbahnexperimente durchführen, der Gesetzesverstoß wird so umgangen, das Verbrechen findet dennoch statt. Der BSE Skandal beweist vor allem, wie groß der Einfluß der bestechungsfreudigen Agrarlobby auf die Politiker ist. In Südafrika sind ganze Fraktionen der ANC Regierung in krimineller Verbindung mit staatlichen wie halbstaatlichen Waffenhändlern. In den Viehställen, bei Tierärzten, bei der Ernährung und schließlich wieder beim Entsorgen menschlichen Mülls herrscht Crime. Kein einziger Diamant, der nicht profitabler Kriegsgrund wäre. Keine Ökologie mehr ohne Verbrechen und keine einzige Karriere.
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Die Theorie, die an der Lage heute lernt, die Banden in den Klassen zu identifizieren, ist die Parodie auf die formale Soziologie, welche die Klassen leugnet, um die Banden zu verewigen. Th. W. Adorno
Alles Krimi – oder was!? – Nur der Kriminalroman ist treu geblieben. In ihm geht es immer gegen die Reichen: weil sie das Verbrechen sind. Bei Raymond Chandler, Ross McDonald, Eric Ambler, John Le Carré, Henning Mankell, deren Politkrimis Ausdruck fanden in Filmen und deren Akteuren wie Edward G. Robinson, Robert Redford oder Meryl Streep, wird zuverlässig abgehoben von der harmlosen Verzweiflungstat der underdog Verbrecher, die als looser im Bodensatz des gesellschaftlichen Schattens bloßes Dasein fristen. Die wahre Detective-Story und der moderne Ökokrimi fixieren und verdichten auf triviale Art ein deutlicheres Bild der Verhältnisse als jede Betroffenheitsprosa der formalisierten Öffentlichkeitsarbeit von NGO’s. Der große Phänomenologe Siegfried Kracauer hat das schon 1925 erklärt: »Der Detektiv-Roman, den meisten Gebildeten nur als außerliterarisches Machwerk bekannt, das in den Leihbibliotheken sein Dasein auskömmlich fristet, ist allmählich zu einer Stellung aufgerückt, der Rang und Bedeutung nicht wohl abgesprochen werden können. Was sie sämtlich verbindet und prägt, ist die Idee der durchrationalisierten zivilen Gesellschaft, die sie mit radikaler Einseitigkeit erfassen und in der ästhetischen Brechung stilisiert verkörpern. Ohne Kunstwerk zu sein, zeigt doch der Detektivroman einer entwirklichten Gesellschaft ihr eigenes Antlitz reiner, als sie es sonst zu erblicken vermöchte. Die typische Struktur, die das vom Detektiv-Roman dargebotene Leben enthält, deutet darauf hin, daß das ihn produzierende Bewußtsein kein individuell-zufälliges ist. Wie der Detektiv das zwischen den Menschen vergrabene Geheimnis aufdeckt, so erschließt der Detektiv-Roman im ästhetischen Medium das Geheimnis der entwirklichten Gesellschaft und ihrer substanzlosen Marionetten. Seine Komposition wandelt das sich unfaßliche Leben zum übersetzbaren Gegenbild der eigentlichen Wirklichkeit.« Die erkennbaren Mechanismen der Gang- und Rackett-Herrschaft betreffen alle Organisationen: die Mafia, die Partei, den Clan, die Staatsapparate, das Kartell, das Unternehmen, die Börse, und sogar das in Mode gekommene Netzwerk. Das Rackett-Muster bezeichnet ein subtiles Prinzip der Mehrwertaneignung, in dem die Grenze zwischen Raub und Tausch verschwimmt. Es gewährt aber auch Mehrwert zur Durchsetzung einer wirtschaftlichen oder politischen Entscheidung oder es preßt Mehrwert als Leistung ab zur Sicherung einer wirtschaftlichen oder politischen Position. Das Rackett-Raster begründet die herrschenden Zwänge zur Loyalität, denen die Individuen in Organisationen ausgesetzt sind. Diese Zwänge stützen sich auf quasi-staatliche Exekutivfunktionen, mit denen das Rackett auch in Konkurrenz zu anderen Racketts treten kann. Es ist die Anatomie des Herrschaftsprinzips, das sich stets und überall auf Sanktionen gründet und dem Individuum als liberale Freiheit einzig die Freiheit der Wahl des Racketts läßt. Die These des Racketts-Syndrom verweist am Ende nur darauf, daß demokratische Ideale mit kapitalistischen Prinzipien unvereinbar sind.
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Das neue Buch von John Le Carré eröffnet aus guten Gründen mit einem rechtlich erwogenen Vorspann, der behauptet, daß alles Fiktion sei, jede Ähnlichkeit sei rein zufällig, weil vor lauter Ähnlichkeiten jeder weiß, wer gemeint ist, wenn von einem Baseler Pharmakonzern die Rede ist, den der Autor größter medizinischer Verbrechen in Afrika beschuldigt. In Afrika, diesem geschundenen Ort, aus dessen ganzem Elend es einigen immer noch gelingt, ihren Profit zu ziehen. Sabotiert und gestört allerdings von aufdeckenden Journalisten wie Carlos Cardoso, der deswegen in Mosambik ermordet wurde. Ihm und allen seinesgleichen widmen wir dieses Heft.
Herzlichst
Ihr Hans Branscheidt