Editorial

01.06.1999   Lesezeit: 3 min

Liebe Leserinnen & Leser,

Die MEDECINS SANS FRONTIERES stellen fest: »Die humanitäre Hilfe gerät zunehmend in Bedrängnis in Krisen überall auf der Welt. Dies ist zum größten Teil das Resultat eines Mangels an Respekt für die Neutraliät, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der humanitären Hilfe. Um unseren unabhängigen Status gegenüber den Konfliktparteien zu wahren, hat Ärzte ohne Grenzen sich entschlossen, jegliche finanzielle Unterstützung für den Einsatz im Balkan von den NATO-Mitgliedstaaten, die EU eingeschlossen, weder zu erbitten noch zu akzeptieren.«

Bei dem blutigen Projekt der Vereinheitlichung von Menschenrechtsmoral & Neoliberalismus wird jeder Außenstehende zum Feind. Alle sollen und müssen wieder auf der moralisch »richtigen Seite« stehen. Besonders die Deutschen.

Die Moralisierung der Politik begleitet synchron die Moralisierung der NGOs im Zuge von deren systematischer Entpolitisierung. Das, was auf Hunderten von NGO Kongressen ohne eine einzige Frage nach Abstammung und Herkunft als »Menschenrechte« einverständig postuliert wird, hat keine Geschichte und kennt keine Politik, sondern gilt wie angeboren. Das metaphorisch genutzte Wort wird jeder kritischen Disposition entzogen. Menschenrechte sind universell gut & gültig. Der Begriff des Menschenrechts ist aber nicht moralischer Herkunft, sondern verkörpert eine Form spezifischer Ausprägung der subjektiven Rechte in der Politik der Moderne. Alle Menschenrechte wurden durch Macht definiert. Sie sind angebunden an jenen wesentlichen Teil von sozialen Rechtserrungenschaften, die ein Grundrechtekatalog gewährt – und somit einklagbar. In planetarischer Praxis, jenseits der Nationalstaaten, könnte nur eine mondiale Institution ein Weltbürgerrecht gewähren, das auch einen Paninterventionismus erlauben würde. Eine Weltdemokratie müßte allen Menschen auf direkte Weise

Rechtssicherheit (Menschenrechte) gewähren. Die NATO ist damit sicher nicht gemeint. Sie stellt keine Internationalen Brigaden des Weltbürgertums zur Verfügung, sondern gehorcht der Macht, der sie am stärksten unterworfen ist. Auch die Vereinten Nationen müßten sich zunächst selber abschaffen, um der Sache der Weltbürgervereinigung dienen zu können. Gründet ihre Einrichtung doch in dem durch Statuten abgesicherten Respekt vor der Staatssouveränität ihrer Mitglieder – unabhängig von menschrechtlichen Leistungen.

Let's make it new: Die Mitte unseres Heftes enthält Passagen aus der neuen medico-Arbeitsgrundlage »Perspektiven internationaler Solidarität«. Darin wird im Anblick der Gewaltförmigkeit neoliberaler Mondialisierung auf ein »weltweites Netz staatenloser Demokratie und auf den hoffentlich wirksamen Widerstand gegen die Katastrophe eines Fortschritts gesetzt, der ansonsten nur der Fortschritt der Katastrophe wäre«. Die Projekthistorie von medico hat inzwischen einen LANGEN ATEM. Jenseits von Technik & bloßer Verwaltung ergeben sich ergeben sich neue Aussichten - auf die konsequente Aufhebung nationalistischer Bornierungen durch multiple citizenship: Libanon, Palästina, Nordirak, Kurdistan, Afrika. Unsere Arbeitsorte sind oftmals über 20 Jahre alt. Nicht rasch und dauernd wechselnd betrieben, als Marketender im Gefolge der Armeeinsätze, wie dieser Heilige Rupert der Schlachthöfe. Sondern standfest. Zäh. Dabeibleibend. Wirklich prägend & verändernd. Mit neuen Vorstellungen multinationalen Zusammenlebens. Also ohne Waffen. Aber tatsächlich demokratisch.

Herzlichst Ihr

Hans Branscheidt

PS.: Unsere neues Orientierungspapier »Perspektiven internationaler Solidarität« können Sie kostenlos abrufen.


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