Editorial

Die Erbschaft dieser Zeit

01.11.1999   Lesezeit: 3 min

Den bestimmenden Satz der Moderne hat der Namensgeber der Schallgeschwindigkeit, der Physiker Ernst Mach geprägt: »Das Ich ist unrettbar«. Später beschrieb ein Freund Machs, der Schriftsteller Robert Musil, in seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« den Schock des modernen seriellen Menschen, der das Gefühl von der Bedeutungslosigkeit seiner Existenz erfährt. Doch war die geistige Krise, die Deutschland 1918 durchmachte, tiefgreifend bewußter als die von 1945. Die Situation nach dem I. Weltkrieg war katastrophal: aber in einer Weise, die dem Empfinden die Reflexion über die Mächte der Selbstvernichtung und über die Kontinuität der europäischen Kultur aufdrängte. Diesem Diskurs entsprang zwischen 1918 und 1927 ein halbes Dutzend Bücher, die nach Umfang und ihrem extremen Charakter mehr als Bücher sind. Blochs »Geist der Utopie«, Spenglers »Untergang des Abendlandes«, Franz Rosenzweigs »Stern der Erlösung«, Karl Barths Kommentar zum »Römerbrief«, dann Martin Heideggers »Sein und Zeit« und dann eben auch noch »Mein Kampf«. Aus diesen Texten spricht ein herrisches Streben nach Totalität, nach Utopie, nach messianischer Erlösung und nach Apokalypse. Wie ihr kolossales Gegenstück in Österreich, »Die letzten Tage der Menschheit« von Karl Krauss, sind diese Schriften aus dem deutschen Untergang heraus dazu bestimmt, entweder gelesen zu werden von Menschen, die sich dem Untergang geweiht sahen, oder von solchen, denen die Hoffnung auf eine grundlegende menschliche Erneuerung noch nicht vergangen war. Der Abgrund von 1945 machte jeglichen Gedanken unmöglich. Der Kulturschock Auschwitz und die Einzigartigkeit der Nazi-Verbrechen betäubten die Vorstellungskraft. Die psychoenergetische Abwehr gehorchte unmittelbar den Erfordernissen bloßen Überlebens, dessen Fortbestand zudem alle noch vorhanden intellektuellen und psychologischen Ressourcen verzehrte. Nur einer, der eine ganz besondere Pleite erlebt hatte, ein fataler Meister aus Deutschland – Martin Heidegger lieferte noch. Er verfaßt zur Überwindung seiner schrecklichen Verlegenheit einen »Brief über den Humanismus«, in dem das ganze Verhältnis Mensch – Dasein im Sinne einer antihumanistischen Wendung bestimmt wird. Der bisher gedachte Mensch ist hier gestrichen: aus ihm wird ein Wesen in daseiender Passivität. Ein Hüter. Ein Bewahrer bestenfalls. Dieses »Ursprungsdenken« aus dem verstummten Deutschland ist wahrscheinlich die Erbschaft dieser Zeit. Es trifft sich auf erregende Weise mit dem Marx der »Manuskripte« von 1848, mit Freuds »Totem und Tabu« und den »Mythologiques« von Lévi-Strauss und sowieso mit den Postmodernen: Derrida, Foucault und Lacan. Es thematisiert als säkulare Variante vom Paradies und dem Fall Adams eine zentrale Frage, deren Untersuchung zur Wurzel der modernen Kultur führen dürfte. Nach dem Verlust des spekulativen Freudschen Unbewußten (Ubw), des Gewissens, des Charakters, der Persönlichkeit bleiben für das neue Jahrtausend nur noch feste ethische Verhaltensregeln: »Man tut das, man tut das nicht«. Diese fatale Regulierung des Individuums, das kein Subjekt mehr ist, wird die Chiffre der Auflösung der bisherigen Welt enthalten. Das Leben im Falschen ist damit so epocheschließend hoffnungslos geworden, daß man sich aus ganzen Sache getrost wieder eine Kinderwippe bauen kann. René Char sagt es: »Wir sind an diesem Tage dem Unheil so nahe, wie es selbst die Sturmglocke nicht ist. – Höchste Zeit also, daß wir uns eine Unglücks-Gesundheit zurechtbauen. Selbst wenn sie nach außen hin das Anmaßende des Wunders haben sollte.«

Am Ende der Vorstellung

herzlichst

Ihr Hans Branscheidt


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