Editorial: Eat the rich?

01.11.2003   Lesezeit: 3 min

Liebe Leserinnen & Leser.

Das »Fordistische System«: die Erfindung des Fließbands und des »gut bezahlten Fabrikarbeiters« ist am Ende. Henry Ford, der Sympathisant Hitlers – nicht ganz: er erfand auch das »Sociological Departement«, eine Einrichtung nicht nur zur Bekämpfung der Gewerkschaften, sondern vor allem zur verhaltenssteuernden Konditionierung der Arbeiter, ihrer Lebens- und Gesundheitskontrolle – bis hin zu deren Alkoholkonsum. Er produzierte nicht nur das FORD-T Modell, sondern übernahm synchron weitreichende Aufgaben innerhalb des sozialen Feldes. Auch sein Nachfolger Bill Gates gilt heute als Inhaber nicht nur von Microsoft, sondern als verfügender Sponsor von Steuerungsprogrammen der Medizin, der Entwicklung, der Bewusstseinsindustrie: tendenziell des gesamten Bildarchivs der Menschheit. Ted Turner (CNN), der kürzlich zusammen mit Daimler-Chrysler den finanziellen Einkauf in die Vereinten Nationen (Global Compact) vorschlug, empfahl eine »Rangliste der vermögendsten Philanthropen« dieser Welt. Das soziale Credo dieser Titanen ist radikaler Darwinismus. Der Begriff der »Philanthropie« entdeckt sich historisch in den Zeiten und Romanen von Charles Dickens als Reaktion der Reichen auf die »Viktorianische Armut«. In Erkenntnis des Umstands, daß der aus dem erklärten Kampf aller gegen alle erworbene Reichtum auch durch soziale Einhegung und Pazifizierung gesichert werden muß.

Unter dem alten Namen Philanthropie, – übrigens genetisch auch die Wiege der humanistischen NGO-Kultur –, ereignen sich heute die modernsten Strategien des direkten Eingriffs der kapitalistischen Sozialunternehmer in Politik, Kultur, Religion und Leben. Entscheidungen im Bundestag, Rentenmodelle, die Hartz-Pläne, entstammen nicht den restbürgerlichen Parlamenten, sondern werden von Managern vorprozessiert oder von McKinsey durchgerechnet – gleich welche politische Persönlichkeit sie am Ende verlesen darf. Abweichler im Parlament werden auf der Stelle relegiert. Der Kanzler macht Politik über Kommissionen – an Verfassung und Parlament vorbei. Diese Art der Lenkung benötigt entsprechende Kader, jenseits von offener Bildung und allgemeinen Universitäten: 47 »Corporate Universities« der Privatwirtschaft bilden heute in der BRD die neue Führungseliten aus. Staatlich anerkannt. Theater, Kunstsammlungen und Orchester sind längst abhängig in der Hand von Großunternehmen. Architektur und Städteplanung von »verarmten« Kommunen nicht mehr bestimmbar. Weitgehend unbemerkt existiert in Städten wie Frankfurt kaum noch öffentlicher Raum: Messe- und Bahnhofsgelände, die Territorien rund um die Hochhaustürme sind zwar noch begehbar, aber das Hausrecht wird über Sicherheitsdienste im privaten Auftrag wahrgenommen. Die kollektiven Menschen sind formell ausgeschlossen. Da die Unternehmen in die Kassen ihrer Kommunen und öffentlichen Institutionen kaum noch Steuern zahlen, ist der Kreislauf der Machthoheit und Lenkungssouveränität vollendet: alle sind direkt auf die Alleinverfügenden angewiesen. Die aber eliminieren alles, was nicht dem Markt und Rentabilität genügt. Folgerichtig übernehmen sie auch die Medizin, die soziale Planung, das öffentliche Leben.

Damit aber ist unausweichlich eine finale Machtfrage gestellt. Wie sollte man die beantworten? »Eat the rich?« Die Reichen fressen, bevor sie einen selber fressen? Die Reichen sind, wie Aliens, seit Jahrtausenden unter uns. Wir sollten doch lieber nicht kannibalistisch mit ihnen verkehren. Vielleicht wollen Sie ja, wie »ET«, auch einfach nur »nach Hause«. Die Frage ist dann, wie können wir ihnen helfen? Wir werden uns ihnen verweigern müssen. Sie stören und ihre Machtakkumulation unterbrechen. Vor allem aber ihnen beweiskräftig das allein überzeugende Argument des vitalen Lebens jener Millionen Menschen vor Augen halten müssen, die sie selber Dank ihres Tuns aus ihrem Wahnsinn ausgeschlossen haben. Beispiele dafür finden sich in diesem Rundschreiben. Auf keinen Fall aber sollten wir die Reichen fressen – sie schmecken einfach nicht gut.

Herzlichst
Ihr
Hans Branscheidt


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