Eine Frage des Angebots

Privatisiert, zerlegt, verkauft: Das britische Gesundheitssystem ist reif für den Markt

13.09.2012   Lesezeit: 4 min

Die Liste der Branchen des großen Mischkonzerns Virgin ist beeindruckend. Ursprünglich schlicht ein Schallplattenlabel, tragen heute auch Fluglinien, Limousinen, Videospiele und Reiseagenturen das Logo des Unternehmens. Seit diesem Jahr gehört auch die Gesundheitsversorgung ins Portefeuille des Unternehmers und Ballonfahrers Richard Branson. Virgin Care hat den Zuschlag bekommen als Teile der Gesundheitsversorgung in den Grafschaften Surrey und Devon ausgeschrieben wurden.

England befindet sich in einem dramatischen Umbruch. Mit der Begründung das Staatsdefizit senken zu müssen, wird das britische Gesundheitswesen, „der größte Schatz des Landes“, Stück für Stück an den Meistbietenden veräußert. Der staatliche britische Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) war eine von fünf Säulen des modernen Wohlfahrtsstaates im Nachkriegsbritannien. 1948 eingeführt, überlebte das staatliche, zentral organisierte Gesundheitssystem trotz aller Privatisierungsattacken unter Margret Thatcher und New Labour immerhin 60 Jahre. Bei aller Kritik an langen Wartezeiten, ist das NHS international anerkannt ist als eines der kostengünstigsten und gerechtesten Gesundheitssysteme weltweit. Alles wird sich jetzt ändern, nur das Logo wird bleiben - ein „Trojanisches Pferd“, wie Allyson Pollock kürzlich in der britischen Tageszeitung The Guardian bitter bemerkte. Die Professorin der Gesundheitswissenschaften an der Queen Mary Universität in London vermutet, Anteilseigner und Finanzinvestoren werden den guten Ruf der Marke NHS nutzen, um sich Eintritt in die Gesundheitsmärkte anderer Länder zu verschaffen. Die Gewinner dieses Coups sind internationale Gesundheitskonzerne wie Serco, Circle Health oder eben Virgin Care.

Steuerfinanzierte Profitraten

Was in Deutschland längst vollzogen wurde, fängt in England gerade erst so richtig an - die Privatisierung des Gesundheitswesens. Es begann mit einer Privatisierungsoffensive (Private Finance Initiative, PFI) der Labour-Regierung in den 1990er Jahren, die sogenannte öffentlich-private Partnerschaften ins Leben rief. Es folgten Lohnkürzungen von bis zu 30%, Massenentlassungen und die Schließung von Krankenhäusern und Gesundheitsstationen. Was unter Tony Blair begann, wollen die konservativen Tories endgültig exekutieren: Das im März diesen Jahres im Parlament verabschiedete Gesetz - die sogenannte Health and Social Care Bill - hat faktisch die „Abschaffung” des NHS zur Folge, wie sogar das renommierte Fachblatt British Medical Journal warnte. Die britische Regierung setzt konsequent auf Marktstrukturen, Outsourcing und Privatisierung vormals staatlicher Dienstleistungen und folgt damit auch den Empfehlungen des Spartriumvirats aus Europäischer Zentralbank, IWF und Europäischer Kommission.

Auf der Strecke bleiben Arbeitnehmerrechte und öffentlich verwaltete Einrichtungen, die zumindest eine gewisse Rechenschaftspflicht gegenüber der Bevölkerung haben. Was kommen wird, ist schon jetzt, gut ein halbes Jahr nach Verabschiedung der Gesundheitsreform, abzusehen: ein zersplittertes, auf Wettbewerb basierendes Gesundheitssystem mit geschätzten 5-10-fach höheren Marketingausgaben. „Eine größere Zahl unterschiedlicher Anbieter wird Innovation und Effizienz steigern, weil sie zu mehr Wettbewerb und mehr Wahlmöglichkeiten führt“, hieß es im universellen Neusprech der liberal-konservativen Regierungserklärung bereits im November 2010. Jeder „willige Anbieter” soll Behandlungen, Medikamente und medizinisches Gerät an den NHS verkaufen können. „Einkäufer” sind hierbei regionale Arbeitsgemeinschaften von Hausärzten (General Practitioners, GPs). Sie entscheiden über den medizinischen Bedarf und wählen den entsprechenden Anbieter mit dem besten Angebot aus.

Die seit 60 Jahren bestehende Verpflichtung des Staates, eine Gesundheitsversorgung für alle zu gewährleisten, wurde merkantilisiert und damit praktisch außer Kraft gesetzt, so Allyson Pollock. Zusammen mit einem Netzwerk von Gesundheitsprofessionellen organisiert die Expertin für Public Health den Widerstand gegen die Reformpläne: die Versammlungen, Demonstrationen und groß angelegte Kampagnen wie Keep our NHS public prägten die politische Landschaft über ein Jahr. So sprachen sich die 90% der Ärzte vertretende British Medical Association sowie das Royal College of Nurses, die politische Vertretung der Gesundheits- und Krankenpfleger, für die komplette Rücknahme der Reformpläne aus. Ohne Erfolg, trotz aller öffentlichen Einsprüche wurde die Gesetzesänderung im März 2012 verabschiedet.

Dabei ändert sich an der Grundfinanzierung vorerst nichts. Der NHS ist eines der wenigen ausschließlich steuerfinanzierten Gesundheitssysteme. Nur werden diese Steuergelder nun von diversen, privatwirtschaftlich organisierten Anbietern umgesetzt. Dass hierbei nicht jeder Pence auf der britischen Insel bleibt, hat unlängst die unabhängige Nichtregierungsorganisation Corporate Watch festgestellt. Detailliert wird aufgelistet wie die Gesundheitsunternehmen die Profite auf Konten in sogenannten Steueroasen zwischenlagern. Aber dieses Finanzgebaren ist beileibe keine neue „englische Krankheit“, sondern auch in Deutschland setzt der Krankenhauskonzern Rhön AG auf eine Rendite von 15%, ein Wert, der exakt der finanzkrisenbereinigten Kapitalertragserwartung der Deutschen Bank entspricht. Und die Zukunft in England droht dramatisch zu werden: Experten zufolge wird im Jahr 2020 jedes vierte Kind in Armut aufwachsen.

Kirsten Schubert


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