Wie können Bedingungen aussehen, dass Menschen nicht mehr gehen müssen, sondern bleiben dürfen und bleiben können? Das integrierte Gemeindeentwicklungsprojekt im nicaraguanischen Dorf La Palmerita will Menschen das Bleiben ermöglichen. Aber was auf dem Reißbrett einleuchtend klingt, stößt in der Realisierung auf vielfältige Schwierigkeiten. Häuser und Land zur Verfügung zu stellen, wie das in La Palmerita geschehen ist, bedeutet noch nicht, dass ein intaktes Gemeinwesen entsteht. Die Bewohnerinnen und Bewohner Palmeritas kommen alle aus Landarbeiterfamilien, konnten nicht zur Schule gehen und haben je nach Bedarf alle paar Monate den Wohnort gewechselt. Gewalterfahrungen und Vernachlässigung in der Arbeit und in der Familie sind tief in die Biografien eingegraben. Von Anfang an hatte medico deshalb psychosoziale Maßnahmen zur Stärkung der Gemeinde und der Individuen unterstützt. Familiäre Gewalt war ein wichtiges Thema dabei. Doch der Selbstmord einer 14-jährigen Ende vergangenen Jahres macht deutlich, dass auch die in Palmerita aufgewachsene Generation mit diesen Problemen konfrontiert ist.
Die Koordination der Maßnahmen in La Palmerita ist Teil des Aufgabenfeldes von Dieter Müller, der seit vier Jahren als medico-Repräsentant in Mittelamerika lebt. Er berichtet, dass medico insbesondere die Stärkung der Selbstorganisation und Selbsthilfe in La Palmerita gefördert habe. „Unser Projektziel bestand und besteht darin, vor allem die Kinder und Jugendlichen in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken und ihnen zu ermöglichen, Konflikte innerhalb der Familien und in der Gemeinde gewaltfrei zu bewältigen“, so der medico-Repräsentant. Nach dem Suizid sei deutlich geworden, dass das noch ein langer Weg ist.
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Dieter Müller: „In einer internen Sitzung mit dem lokalen, für die psychosozialen Maßnahmen zuständigen Partner MEC haben wir diese Situation besprochen, und ich habe insistiert, dass eine gezielte Arbeit mit den nun 10 -15-jährigen dringend geboten sei. Diese Kinder waren aufgrund ihres Alters vor 2 -3 Jahren im Rahmen des damaligen BMZ-Projekts meist nicht in die Arbeit über Sexualität und Gender einbezogen.“ Auf dieser Sitzung einigte man sich das Thema sexuelle Gewalt in Maßnahmen aufzugreifen und beschloss einen Selbstverteidigungskurs für junge Mädchen anzubieten. Und so kam zu Beginn des Jahres folgende Maßnahmenliste zustande, die Mitarbeiterinnen von MEC, zumeist geschulte Psychologinnen, dann auch ausführten. Dazu gehörte u.a. die psychosoziale Begleitung und Betreuung von Personen, die suizidgefährdet sind oder Opfer innerfamiliärer Gewalt; Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zum Thema sexuelle Gewalt für die Gemeinde insgesamt; die Stärkung der psychosozialen Promotoren/innen, die in den meisten Fällen ihre eigenen Gewalterfahrungen noch nicht aufgearbeitet haben. Und nicht zuletzt ein heikles Thema: die Förderung der juristischen Aufarbeitung.
Wichtig sei, sagt Dieter Müller, dass bei allen Problemen die Gemeinde gemeinsame Verbesserungen erlebe. So konnte parallel mit Zuschussfinanzierung des Landes Baden-Württemberg - akquiriert von der „Initiative Eine Welt Köngen“ - und Mitteln des Vereins Diriomito aus München eine Vorschule, eine Bibliothek und ein Mehrzweckraum errichtet werden. Die Bibliothek wurde mit Büchern ausgestattet. Dort ist auch ein Computer zugänglich. Eine Solarenergieanlage wurde installiert und ein Sport- und ein Kinderspielplatz gebaut.
Dieter Müller zieht eine gemischte Zwischenbilanz: „Gelungen ist auf jeden Fall, dass es den Menschen in La Palmerita wirtschaftlich deutlich besser geht als 2005, als wir das Projekt begonnen haben. Das ist Ergebnis der Projektaktivitäten, aber nicht nur. Viele leben nicht von der Landwirtschaft, sondern arbeiten als Tagelöhner oder Hausangestellte. Nur knapp die Hälfte der ca. 60 Familien bauen selbst auf ihrem Land an. Deutlich mehr haben Hühner, Schweine, Schafe oder Rinder. Aber auch Mobiltelefone, Fahrräder, Motorräder, Pferde.“
Der Ausweg aus dem Teufelskreis der Armut ist wohl eine Frage mehrerer Generationen. Das zumindest ist die Erfahrung aus La Palmerita. Viel positiver sieht Müller die Stärkung des Selbstwertgefühls, der Selbstermächtigung. „Das würde ich vor allem bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen festmachen. Einerseits, weil der Schulbesuch in einem Umfang gesichert ist, der undenkbar war, als sie noch als Kaffeepflücker arbeiteten. Andererseits können die Heranwachsenden eigene Lebensprojekte entwickeln, z.B. ein Studium beginnen oder aber das eigene Land bearbeiten, was früher nicht möglich gewesen wäre.“
Katja Maurer
Projektstichwort
Seit 2005 unterstützt medico die Gründung und soziale Entwicklung des Dorfes La Palmerita. Land- und arbeitslose Tagelöhner hatten nach einem Hungermarsch auf Managua den Boden erkämpft. Sie baten uns, mit Blick auf die positiven Erfahrungen der von medico unterstützten Bauern in El Tanque, sie beim Aufbau eines Dorfes und eines Gemeinwesens zu unterstützen. Spenden unter dem Projektstichwort: Nicaragua.