Millionen SyrerInnen sind auf der Flucht. medico-Nahostreferent Martin Glasenapp berichtet im Interview mit Jule Axmann und Bodo Palmer (attac) über die Situation der Flüchtlinge und die Hintergründe des Konflikts.
Attac: Heute ist schon fast vergessen, wie der syrische Bürgerkrieg begonnen hat – wo siehst Du die wesentlichen Ursachen des Konflikts?
Martin Glasenapp: Als der syrische Aufstand gegen das Regime von Präsident Bashar al-Assad begann, war der gesellschaftliche Reichtum so ungleich verteilt wie nie zuvor – die Hälfte des Reichtums konzentrierte sich auf die fünf reichsten Prozent der Bevölkerung. Assad hat nach seiner Amtseinführung 2001 die staatliche Wirtschaft dereguliert. Hinzu kam eine massive Vernachlässigung des Agrarsektors. Die neu entstandene Privatwirtschaft wurde von einer räuberischen Elite der New Economy kontrolliert. Die dadurch entstandene Ungleichheit führte zu starken sozialen Spannungen. Konkreter Auslöser der sozialen Rebellion waren dann unter anderem die Folgen der Dürren, durch die allein 2009 ca. 800.000 Familien ihre bäuerliche Existenz verloren und in die Städte abwanderten. Was in der Provinz und den armen Vorstädten von Damaskus als gewaltloser Aufstand junger Menschen begann, wurde von der Unerbittlichkeit des Assad-Regimes in einen offenen militärischen Entscheidungskrieg verwandelt.
Wer kämpft in Syrien, und wofür?
Das Land ist in drei Teile zerfallen. Das Regime hat einen festen Zugriff auf einen Korridor, der von der südlichen Grenze zu Jordanien über die Hauptstadt Damaskus bis an die Mittelmeerküste reicht. Die Rebellen kontrollieren einen Raum, der sich in Zentralsyrien von der türkischen Grenze entlang des Euphrat bis nach Jordanien erstreckt. Im Nordosten hat die kurdische Minderheit ihre Siedlungsgebiete für autonom erklärt. Das Regime will den politischen Status Quo halten und bietet mögliche Zugeständnisse nur unter Prämisse der Anerkennung seiner Legitimität an. Für alle Rebellengruppen und die Auslandsopposition (mit sehr wenigen Ausnahmen) ist das nach mindestens 100.000 Toten inakzeptabel. Die Schwäche der Opposition ist, dass sie weder überzeugende Politiker noch ein mehrheitsfähiges Programm hat. Viele, die Assad verabscheuen, fürchten eine Islamisierung und irakische Verhältnisse. Es gibt also ein strategisches Patt.
Wie beurteilst Du den Einfluss der Gotteskrieger in Syrien?
Der Einfluss radikalreligiöser Gruppen wächst stetig. Es gibt Schätzungen, dass mittlerweile ca. 40 Prozent der bewaffneten Rebellen salafistischen Strömungen zugerechnet werden können. Viele Verbände, die Milizionäre etwa aus den arabischen Ländern, oder auch Tschetschenien einschleusen, betrachten Syrien lediglich als Schlachtfeld im Djihad. Entsprechend sind sie bei der Bevölkerung allenfalls gelitten und haben keine wirkliche soziale Basis. Skandalös ist, dass die zunehmende Präsenz dieser Gruppen von der NATO trotz einer „Terrorliste“ zumindest geduldet wird. Es gibt einen regelrechten Trail von Djihadisten, die relativ problemlos über die türkische Grenze kommen. Vor allem die Bevölkerung im Norden Syriens sieht sich jetzt gleich zweifach bedroht – sowohl von den Truppen Assads, als auch von den Djihadisten. Die Türkei fördert diese Eskalation nicht nur im Großraum Aleppo, sondern auch entlang der Grenze zu den kurdischen Gebieten in Syrien.
Wie ist die augenblickliche Situation in Syrien? Wie geht es den Flüchtlingen?
Die Lage ist von extremer Gewalt gekennzeichnet. Täglich verlassen 6.000 Menschen das Land. Zwei Millionen sind mittlerweile in die Nachbarländer geflüchtet, geschätzte 4 Millionen sind im Land selbst auf der Flucht – bei einer Gesamtbevölkerung von 23 Millionen. Seit dem Giftgasangriff am 21. August mit etwa 1.000 Toten sind bis heute erneut knapp 4.000 Menschen durch konventionelle Waffen ums Leben gekommen. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge Antonio Gutierrez bezeichnet den syrischen Bürgerkrieg als „größte humanitäre Katastrophe“ des neuen Jahrtausends. Zudem herrscht in weiten Teilen Syriens mittlerweile nackter Mangel. Es fehlt an allem: Medikamente, Brennstoff, zum Teil sogar Nahrungsmittel und Trinkwasser.
Was muss in der internationalen Politik geschehen, um den Weg zu einer politischen Lösung freizumachen?
Das Töten muss unterbrochen werden. Ein militärischer Endkampf würde Syrien endgültig zerstören. Und es muss – wohl auch mit Assad – politische Verhandlungen geben. Aber die Widerstände gegen eine Verhandlungslösung sind enorm. Die USA müssen nicht nur mit Russland, sondern auch mit dem Iran kooperieren und ihre Blockadehaltung aufgeben. Qatar und Saudi Arabien, die die Terrorgruppen finanzieren, aber auch die Türkei haben kein Interesse an Verhandlungen. Auf Seiten der Opposition gibt es niemanden, der für alle Rebellen sprechen könnte. Insoweit würde ein Waffenstillstand zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur am Regime, sondern wohl auch an der Zersplitterung der Rebellen scheitern.
Wie kann unter diesen Bedingungen eine solidarische politische Arbeit aussehen? Wem soll unsere Solidarität gelten?
Wenn man das große Geschehen nicht beeinflussen kann, sollte man versuchen im Konkreten zu handeln. Die Militarisierung der Revolte macht ihre ursprünglichen Ziele nicht illegitim. Es geht noch immer um Freiheit und Würde, die beiden zentralen Begriffe der arabischen Revolutionen. medico unterstützt zivile Gruppen im palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk in Damaskus, die versuchen, die Zerstörung ihrer Nachbarschaften zu verhindern. Wir fördern nicht nur oppositionelle Ärztestrukturen, sondern auch Freie Schulen in jenen Gebieten, die das Regime aufgegeben hat und wo lokale Aktivist_innen dem wachsenden Einfluss von religiösen Gebetschulen einen säkularen Unterricht entgegensetzen. In den kurdischen Gebieten ist eine temporäre autonome Zone entstanden, in der neue Formen einer sozialen Demokratie erprobt werden. Zuletzt werden immer mehr Kriegsflüchtlinge auch nach Deutschland kommen. Ihnen gilt es mit Anteilnahme und Solidarität zu begegnen.
Das Interview mit medico-Nahostreferent Martin Glasenapp führten Jule Axmann und Bodo Palmer für den Attac-Rundbrief 04/2013