„Europa verrät seine Geschichte“

Nuruddin Farah brandmarkt die europäische Migrationspolitik

05.12.2013   Lesezeit: 5 min

Es ist bestürzend zu lesen, dass eine Mutter und ihr Baby, noch verbunden durch die Nabelschnur, tot aus dem Meer gezogen werden. Doch die drakonischen Maßnahmen, die Anfang Dezember in Kraft getreten sind, würde ich als den Gipfel des europäischen Zynismus beschreiben. Eurosur genannt, wird das neue europäische Grenzüberwachungssystem mit Drohnen und biometrischen Programmen gegen die illegalen Reisenden im Mittelmeerraum vorgehen.

Die Nachricht über die 350 Ertrunkenen von Lampedusa hat breite Entrüstung und das inständig formulierte Beileid von Politikern und religiösen Persönlichkeiten hervorgerufen. In Rom erklärte Papst Franziskus das Ereignis zum „Tag der Tränen“. Andere trauerten mit den Überlebenden, den Männern und Frauen und Kindern, von denen einige wünschten, sie wären selbst gestorben. Und schon bald hörten wir die herzlosen Kommentare der Schwarzmaler, die sich mit anderen Bürokraten darüber in die Haare gerieten, wer von den Überlebenden nun Unterstützung erhalten könne und wer nicht. Die Bürokraten unterschieden zwischen den Asylbewerbern und den Wirtschaftsmigranten. Doch wer sind die Menschen, über die hier entschieden wird?

Migranten sind fast alle von Hoffnung und einem gewissen Vertrauen in die Menschheit erfüllt. Der Wunsch nach einer besseren Zukunft treibt sie an. Sie ziehen los in klapprigen Booten, von denen so viele schon auf See verloren gingen. Wenn und falls sie ankommen, gleichen sie den Wracks, die sie nach Europa gebracht haben. Dann brauchen sie Nahrung, sie benötigen Kleidung und eine Unterkunft, während ihre Papiere untersucht werden und ihre Geschichte überprüft wird. Nach der Ankunft erfahren sie sofort den Unterschied zwischen den normalen Leuten, die alles tun, was sie können – Unterkunft anbieten, zu essen geben, das Wenige, das sie haben, mit ihnen teilen –, und den Bürokraten, für die sie eine Bootsladung voll unwillkommener Unerwünschter sind.

Wie Tiere in Quarantäne gesteckt

Es ist egal, ob sie aus Eritrea, Somalia, Syrien oder dem Irak kommen. Wir können sicher sein, selbst um in einem solch miserablen Zustand nach Europa zu kommen, haben die Migranten all ihre Ersparnisse ausgegeben, um die Schlepper zu bezahlen, die überall auf der Welt noch die Ärmsten und Schwächsten ausbeuten. Uns allen ist bewusst, dass kein denkendes Wesen diese Reise über das Meer wagen würde, wäre er oder sie nicht verzweifelt. Und obwohl alle das Gefühl der Verzweiflung teilen, sind ihre persönlichen Geschichten so unterschiedlich wie die Länder, aus denen sie kommen.

Wenn sie wie Tiere in Quarantäne gesteckt werden, ist für viele die Ablehnung, mit der sie nichtwillkommen geheißen werden, noch furchteinflößender. Vielleicht hatten sie bereits Angst vor dem, was auf sie zukommen würde, als sie zu ihrer Reise aufbrachen. Mit Sicherheit aber werden sie einsamer und hoffnungsloser sein, nachdem man ihnen gesagt hat, dass es für sie in Europa keine Zukunft gibt.

Die Zeitungsartikel, die ich über Lampedusa gelesen habe, berichteten, dass die Bewohner die Migranten willkommen hießen. Gleichzeitig sprachen die Menschenrechtsverteidiger und die Flüchtlingsinitiativen von der wachsenden Verzweiflung über die Gleichgültigkeit der europäischen Regierungen. Es werden Diagramme gezeichnet mit den Vorschlägen, was mit den Ankömmlingen zu tun sei. Es werden Tabellen gefüllt mit den unterschiedlichen Maßnahmen, die die Schar der Experten empfiehlt. Der Kern des Problems bleibt die bürokratische Frage, ob Länder, die weit entfernt sind vom Mittelmeer, gleichermaßen für die Kosten aufkommen und Migranten aufnehmen sollen wie die Länder, in denen sie ankommen. Manche schlagen vor, dass die Neuankömmlinge je nach Herkunft gleichmäßig zwischen den europäischen Ländern aufgeteilt werden, in denen es bereits migrantische Communitys ihrer Herkunft gibt.

Die Welt ist nicht länger, was sie einmal war. Manch einer beschreibt den Zustand, den die Welt angenommen hat, als ein globales Dorf im Entstehen. Wir würden zu Opfern unseres eigenen Mangels an Vorstellungskraft, sollte es uns nicht gelingen, den Schritt vorwärts in Richtung des einen globalen Dorfes zu machen. In Richtung einer Welt, die groß genug ist, dass wir, auf dem Stand unseres heutigen Fortschritts, sie alle als Bürger teilen können. Versprechungen bereits verraten

Es ist an der Zeit, dass die Europäer sich in die historische Situation zurückversetzen, in der sie selbst vor 100 oder mehr Jahren waren. Ich gehe davon aus, dass die Europäer die Migrationsgeschichte ihres Kontinentes nicht vergessen haben. Eine Geschichte, die unabänderlich mit Umsiedlungen und Vertreibungen an anderen Orten dieser Welt verknüpft ist. Die Geschichte von Millionen Europäern, die die Ozeane überquerten auf der Flucht vor Armut und Hungertod, mörderischen Kriegen, religiöser Verfolgung oder der sozialen Ungerechtigkeit. In Irland, Frankreich, Finnland, Norwegen, Italien oder England.

Dass ich die Menschen daran erinnern muss, macht mich traurig. Und ich bin entsetzt darüber, dass man die Versprechungen, die nach den 350 Toten von Lampedusa gemacht wurden, bereits verraten hat. Jeder Migrant, der sterben muss, ist für mich eine weitere Anklage der aktuellen europäischen Politik. Es wurde genug geredet. Keine kontraproduktiven Strategien mehr, die nur mehr Tod bedeuten. Wir brauchen weniger Worte, mehr Taten.

Nuruddin Farah hat diesen Text für medico international und die Frankfurter Rundschau geschrieben. Zuletzt auf Deutsch erschienen ist sein Roman „Gekapert“ (Suhrkamp).

Überwacher überwachen

medico international unterstützt das zivilgesellschaftliche Monitoring-Projekt "Watch the Mediterranean Sea". Fast gleichzeitig zur Einführung von Eurosur konnte „Watch the Med“ erstmals einen Fall von unterlassener Hilfeleistung vollständig dokumentieren. 200 Flüchtlinge starben am 11. Oktober vor der italienischen Küste, weil ihnen die Hilfe zu lange verweigert wurde. Watch the Med kämpft gegen die Menschenrechtsverbrechen und die Straflosigkeit im Mittelmeerraum.


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