Pressemitteilung, 07.02.2017

Europäische Passersatzpapiere: Ein weiterer Schritt in Richtung Abschiebung um jeden Preis

07.02.2017  

Abschiebungen werden mithilfe der neuen “Europäischen Passersatzpapiere" erleichtert. Diese wurden im Oktober 2016 fast unbemerkt von der Öffentlichkeit eingeführt.

Zum Treffen hoher Beamter aus Afrika und Europa auf halber Strecke des Valletta-Prozesses am 8. und 9. Februar auf Malta verstärkt die Europäische Union ihre Bemühungen, die Mobilität von Migrantinnen und Migranten einzuschränken, indem sie Abschiebungen mithilfe der neuen “Europäischen Passersatzpapiere" erleichtert. Die „Europäischen Passersatzpapiere“ wurden im Oktober 2016 fast unbemerkt von der Öffentlichkeit eingeführt.

Der von der EU, ihren Mitgliedstaaten und 35 afrikanischen Staaten in Valletta im November 2015 verabschiedete Aktionsplan adressiert „irreguläre Migration, Menschenhandel und die Ursachen erzwungener Migration". Im Rahmen der Halbzeitüberprüfung des Aktionsplans geht es derzeit darum, die Zustimmung von „Drittstaaten“ zu Rückübernahmeabkommen zu erhalten. Diese Abkommen sollen die Abschiebung von Migrantinnen und Migranten erleichtern.

Die Einführung der „Europäischen Passersatzpapiere“ ist ein weiterer Schritt in der mehr als zwanzig Jahre alten EU-Strategie, ihre Migrationspolitik zu externalisieren. Diese Papiere werden ausschließlich von EU-Mitgliedstaaten ausgestellt und ermöglichen die Abschiebung einer Person, ohne dass der „Drittstaat“, aus dem sie vermeintlich kommt, die Herkunft bestätigt hat, und ohne die Rechte der betroffenen Person und den Gleichheitsgrundsatz zwischen souveränen Staaten (im Wiener Übereinkommen garantiert) zu beachten.

Trotz der starken Opposition der afrikanischen Regierungsvertreterinnen und -vertreter gegen die „Europäischen Passersatzpapiere“, die bereits Anfang November 2015 zum Ausdruck gebracht und zu Beginn dieses Jahres von der Zivilgesellschaft und der malischen Regierung erneuert  wurde, werden die „Europäischen Passersatzpapiere“ bereits verwendet – mit erheblichen formalen und inhaltlichen Mängeln.

Über die negativen und unmittelbaren Auswirkungen einer Abschiebungsanordnung auf die Menschen hinaus ist zu betonen, dass die völlige Unklarheit über die Verwendung der Europäischen Passersatzpapiere zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen führen kann, wie die Zahl der offenen Fragen und Ungewissheiten zeigt (siehe Anhang).

Da der Abschiebeapparat zunehmend an Stärke gewinnt (Zusammenarbeit mit der Türkei, Afghanistan, Libyen und den neuen Befugnissen von Frontex), ist zu beachten, dass Grundrechte in der im Amtsblatt der EU veröffentlichten Verordnung nicht einmal erwähnt werden.

Die unterzeichnenden europäischen und afrikanischen Netzwerke zivilgesellschaftlicher Organisationen fordern die EU-Mitgliedstaaten auf, die Nutzung der „Europäischen Passersatzpapiere“ unverzüglich einzustellen, und verlangen von den EU-Behörden, öffentlich und ohne Verzögerung Informationen über ihre Verwendung bereitzustellen (siehe beigefügte Liste).

Pressekontakt

Unterzeichnende Organisationen

AEDH – European Association for the Defence of Human Rights
EuroMed Rights
FORIM - Migration based International Solidarity Organisations Forum
Loujna-Tounkaranké
Medico International
Migreurop
West African Migration Observatory

Dokumentation Fragenkatalog

Am 17. November 2016 erschien im Amtsblatt der EU die Verordnung vom 26. Oktober „über die Einführung eines europäischen Reisedokuments für die Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger“ und zur Aufhebung der Empfehlung des Rates vom 30. November 1994.

In dieser Verordnung kann man lesen: „Die nationalen Behörden der Mitgliedstaaten sind bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, die keine gültigen Reisepapiere besitzen, mit Schwierigkeiten konfrontiert. Es ist daher erforderlich, die Akzeptanz eines verbesserten und einheitlichen europäischen Reisedokuments“ für die wirksame Abschiebung der Betroffenen „durch Drittländer als Referenzdokument für die Zwecke der Rückkehr zu fördern.“ Dazu wird erläutert, dass das einheitliche europäische Reisedokument „dazu beitragen sollte, den Verwaltungs- und Bürokratieaufwand für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten und der Drittländer, einschließlich der Konsulate, zu reduzieren, und die notwendigen Verwaltungsverfahren zur Sicherstellung der Rückkehr und Rückübernahme illegal aufhältiger Ausländer zu verkürzen.“ Die Verordnung sieht eine Harmonisierung des Formats, der Sicherheitsvorschriften und der technischen Spezifikationen für die europäischen Passierscheine vor, behandelt aber nicht die Frage der Vorschriften über dessen Ausstellung und Verwendung und die Wahrung der Grundrechte wird nicht thematisiert.

Als die Idee eines Passersatzpapier beim EU-Afrika-Gipfel vom 12. Und 13. November 2015 in Valletta verhandelt wurde, haben sich die anwesenden afrikanischen Länder dagegen gewendet (Statewatch Observatory on the refugee crisis in the Med and inside the EU 21 October – 24 November 2015). Indem sie die Erhöhung der Rückkehrquote und eine Förderung der Abschiebungsmassnahmen innerhalb der EU bezweckt, wirft die Verordnung viele Fragen für die Zivilgesellschaft auf und führt zu großer Sorge, auch für die von den Zurückweisungen betroffenen Länder.

Das Reisedokument oder europäisches Passersatzpapier scheint zum Beispiel heute der Stein des Anstoßes in der Zusammenarbeit zwischen der EU und Mali zu sein. Infolge der Rückübernahme zweier Träger des von Frankreich ausgestellten Reisedokuments - und zwar im August 2016, also noch vor der Annahme der Verordnung – und dank der Mobilisierung der Zivilgesellschaft haben die malischen Behörden schließlich die Einreise von sich in derselben Situation befindenden Personen verweigert und ihre Ablehnung dieser Vorgehensweise wiederholt.

Wir stellen uns als Akteure der Zivilgesellschaft einige Fragen, die wir Transparent beantwortet sehen möchten, hinsichtlich vor allem der zu bewältigenden Herausforderungen:

Bezüglich der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten

1.    Wie viele europäische Passersatzpapiere wurden in den letzten fünf Jahren (2012 bis 2016) in der Europäischen Union und in ihren Mitgliedstaaten insgesamt ausgestellt?

2.    Welche waren die fünf wichtigsten Bestimmungsländer für Abschiebungen mittels eines europäischen Passersatzpapier zwischen 2012 und 2016?

3.    Wann und in welchen Fällen greifen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf die europäischen Passersatzpapiere zurück?

4.    Wurden die Auswirkungen einer möglichen Missachtung der Rechte der Zurückgewiesenen im Vorfeld der Annahme der Verordnung 2016/1953 nach europäischen Rechtsvorschriften diskutiert?

5.    Welche notwendigen Kriterien sind zu beachten, um die Staatsangehörigkeit festzustellen? Werden diese Kriterien genau aufgelistet? Wer ist zuständig für die Feststellung der Staatsangehörigkeit?

6.    Kann ein Passersatzpapier einem Minderjährigen ausgestellt werden?

7.    Wird der Betroffene über das europäische Passersatzpapier und über die Verwendung seiner persönlichen Daten zum Zweck seiner eventuelle Ausstellung informiert?

8.    Im Erwägungsgrund 8) der Verordnung steht: „Die von der Union mit Drittländern geschlossenen Rückübernahmeabkommen sollten auf die Anerkennung des europäischen Reisedokuments für die Rückkehr hinwirken“. Ist ein Überwachungsmechanismus vorgesehen für die Achtung der Rechte von den mittels eines europäischen Passersatzpapier Abgeschobenen, vor allem, um die Überprüfung der Identität sicherzustellen? Im selben Erwägungsgrund kann man lesen: „die Mitgliedstaaten sollten die Anerkennung“ eines solchen Reisedokuments „in bilateralen Abkommen und sonstigen Vereinbarungen sowie im Rahmen der nicht durch förmliche Vereinbarungen geregelten Zusammenarbeit mit Drittländern bei Rückkehrmaßnahmen anstreben“. Was ist aber unter „sonstigen Vereinbarungen“ und der nicht durch förmlichen Vereinbarungen geregelten Zusammenarbeit zu verstehen?

9.    Muss das Bestimmungsland der systematischen Verwendung des europäischen Passersatzpapier zustimmen und falls ja, geschieht dies ohne förmliche Vereinbarung?

10.    Über welchen Rechtsmittel verfügen die Drittstaatsangehörigen im Falle der Ausstellung eines europäischen Passersatzpapier von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union?

11.    Über welchen Rechtsmittel verfügen die Konsulate vor der wirksamen Abschiebung im Falle der Ausstellung eines europäischen Passersatzpapier von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union?

12.    Welche Rolle wird die neue Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) für den Erhalt und die Umsetzung der europäischen Passersatzpapiere spielen?
Bezüglich der Drittländer

13.    Welche Rolle spielen die Konsulate, im Prinzip allein zuständig für die Feststellung der Staatsangehörigkeit ihrer Bürger*innen? Werden sie sofort über die Ausstellung vom europäischen Staat des Passierscheins informiert? Wie ist dann das Verfahren?

14.    Was passiert wenn der Drittstaat das Dokument nicht als gültig anerkennt und die Rückübernahme ablehnt? Was geschieht mit dem Träger bei einer solchen Ablehnung?

15.    Was passiert wenn nach der Abschiebung festgestellt wird, dass der Zurückgewiesene die Staatsangehörigkeit des Landes nicht besitzt, in das er abgeschoben wurde? Wie wird sichergestellt, dass er nicht in einem anderen Land weiter abgeschoben wird, wo er erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt werden könnte?


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