Fundstücke im syrischen Frühling

Proteste unter Feuer

22.04.2011   Lesezeit: 10 min

In Beirut bleibt der „arabische Frühling“ noch aus. Zu sehr hat der Konfessionalismus die Gesellschaft zerklüftet, zu wenige gemeinsame Interessen scheinen für die Mehrheit der Bevölkerung zu bestehen. Nun aber wird der mächtige Nachbar Syrien erschüttert. Und das Regime schlägt blutig zurück. Sechs Bemerkungen und ein Lesetipp zur Erinnerung.

1. Der gebrochene Status Quo

Bis zu Beginn dieses Jahres war die arabische Welt der einzige „Kontinent“, auf dem das Demokratiedefizit alle Bereiche umfasste. Sie war zugleich das einzige sprachlich und kulturell zusammenhängende Regionalsystem, in dem sich das Fehlen der Demokratie, das kein speziell arabisches Übel ist, zugleich mit den verschiedensten Formen der regionalen Besatzung und äußeren Einflussnahme verband. Die westliche Dominanz wurde jahrzehntelang indirekt oder rein wirtschaftlich ausgeübt, doch in einzelnen Ländern, wie Palästina oder zuletzt Irak, nahm sie Formen eines neuen Kolonialismus an. Hinzu kamen regionale Hegemonialkriege, wie zwischen dem Iran und dem Irak, oder die irakische Besetzung Kuweits. Der Libanon grenzt an zwei Regionalmächte, Israel und Syrien, die ihrerseits immer wieder in die libanesische Innenpolitik eingriffen. Das Land hat einen Bürgerkrieg überwunden, der nicht nur die eigene Gesellschaft spaltete, sondern möglicherweise der arabischen Welt auch ein experimentelles Feld der Moderne nahm. Zwar gelang es einem Widerstand, an dem große Teile der Gesellschaft Anteil nahmen, die israelische Besatzung zu beenden, auf diesen Sieg folgte aber eine bleierne syrische Dominanz und ein islamistischer Aktivismus, der besonders in den von Schiiten bewohnten Regionen präsent ist. Die syrische Präsenz ist abgeschüttelt, dennoch ist das parlamentarische System durch seine Konfessionalisierung erstarrt und unbeweglich für demokratische Reformen.

2. Libanesisches Frühlingserwachen?

Der Aufbruch der arabischen Welt beschränkte sich im Libanon bislang auf kleine Protestaktionen. Bei der letzten, größeren Protestaktion am 27.3. zogen 5.000 Menschen durch die Beiruter Innenstadt. Es regnete in Strömen, aber die Menge forderte dennoch entschlossen die Säkularisierung des politischen Systems. „Wir fordern eine bessere Zukunft und eine Gesellschaft, in der die Religion ihre Bedeutung verliert. Wir sind gegen diese Aufteilung nach Konfessionen“, sagt Mona Haidar, Ärztin und Mitarbeiterin des Arab Resource Collective, mit dem medico im Peoples Health Movement (PHM) zusammenarbeitet. Das dieser Protest noch nicht in einen Massenaufbruch mündet, liegt auch an den 17 offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften des Landes, die eine konfessionell zerklüftete Gesellschaft klientelistisch verwalten. Deren Allgegenwärtigkeit erzeugt einen Immobilismus, dem kaum jemand entkommen kann. Ob es so etwas wie einen Tahir-Platz auch in Beirut geben wird? Der palästinensische Filmemacher Hicham Kayed vom medico-Partner ARCPA lächelt lakonisch: „Hier hat doch noch immer jede konfessionelle Gruppe ihren eigenen Park. Das ist der Unterschied zu Ägypten.“ Kleine Dinge kommen dennoch in Bewegung, die vorher nicht möglich schienen. Etwa wenn sich palästinensische Jugendliche aus dem Ain-El Hilweh-Camp nahe Saida mit anderen Jugendlichen aus Beirut und Tyros treffen, um in Workshops über die „Demokratische Revolution in der arabischen Welt“ zu sprechen. Initiiert wird dieser Dialog unter etwa 50 Teilnehmer von der kleinen palästinensischen NGO Nashet, auch ein medico-Partner.

3. Assads treue Garde

Beirut, ein Hotel im Stadtzentrum, am 19.4. 2011. Der Aufstand in Syrien hat begonnen. Die versammelte Gruppe von Politikern erklärt in mahnenden Worten, dass das Schicksal des Libanons aufs Engste mit der syrischen Sicherheit verknüpft ist. Damit ist der Fortbestand des Assad-Regime gemeint und weil das grüne Band der Sympathie mehr als eine Gottesgabe ist, muss an der Verbundenheit beider Länder unentwegt gearbeitet werden. Ein Parlamentsabgeordneter der Hizbullah wird feierlich: „Heute stehen wir erneut an der Seite unsere syrischen Schwester und an der Seite der syrischen Führung, die sich keinem erpresserischen Druck beugen wird.“ Mit blumigen Worten wird die unerschütterliche Treue aller „guten Libanesen“ gegenüber der syrischen Führung gelobt, der der Libanon „seine Einheit und seine Existenz“ zu verdanken habe. Alle seien sich sicher, dass diese „verschwörerischen Unruhen“ nur von kurzer Dauer sind. Ein weiter Sprecher schlägt dann den historische Bogen: „Wir sind mit Präsident Assad in diesem zentralen Kampf, dessen Ausgang größere Konsequenzen haben wird als jedes vorherige Gefecht. Diese neue Schlacht ist die Fortsetzung des siegreichen ‚Julikrieges’.” So heißt bei der Hizbullah der Sommerkrieg des Jahres 2006 gegen Israel. Am Ende werden Drohungen gegen die syrische Protestbewegung ausgestoßen: „Die Aufrührer werden geschlagen werden, so wie die zionistischen Truppen unsere libanesische Erde nicht besetzten konnten.“ Das Motto der Versammlung lautet: „Unterstützung für Syrien und gegen die Verschwörung.“

4. Das überwundene Unglück

Samir Kassir war einer der bekanntesten linken Journalisten im Libanon. Ein freier Geist, der den Widerstand gegen die israelische Besatzung verteidigte, aber auch zugleich die syrische Hegemonie im Libanon bekämpfte. Im Jahr 2004 schrieb Samir Kassir mit dem Essay „Das arabische Unglück“ eine luzide Bestandsaufnahme der arabischen Verfasstheit:

„Ohnmacht ist heute unbestreitbar der Inbegriff des arabischen Unglücks. Eine Ohnmacht, die daran hindert, das zu sein, was man den eigenen Vorstellungen nach sein müsste. Die Ohnmacht zu handeln, um den eigenen Lebenswillen zu bestätigen, selbst wenn es nur eine Möglichkeit wäre, sich mit dem Anderen im Westen auseinanderzusetzen, der einen negiert, verachtet und nunmehr wieder beherrscht. Ein Blick auf unsere Gesellschaften zeigt, dass sie sich in einer ausweglosen Lage befinden, unfähig Subjekte ihrer eigenen Geschichte zu sein.
Unsere Ohnmacht zeigt sich bei jeder neuen Episode des Palästinaproblems; sie zeigt sich in Ägypten, dem alten Mittelpunkt der arabischen Welt, der in einer üppig wuchernden Bürokratie wie einbetoniert scheint, die die Nachteile des früher vorschnell als Sozialismus bezeichneten Staatskapitalismus mit denen des Ultraliberalismus vereint; sie zeigt sich in Libyen, dass seit 35 Jahren im Gaddafismus erstarrt, dessen sog. ,Herrschaft der Massen’ in einer geschlossenen, unter Polizeiaufsicht stehenden Gesellschaft zu einem Vakuum im politischen Bereich geführt hat; sie beweist sich in Marokko, in dem die fehlenden Freiheiten im politischen Bereich zu einer Stärkung des militanten Islam geführt haben; und sie zeigt sich in Syrien. Seit vierzig Jahren steht das Land unter der lähmenden Vormundschaft einer Diktatur, die zwar verhältnismäßig weniger blutdürstig als die im Irak war, aber das Land nicht minder erschöpft und durch mafiöse Machtstrukturen systematisch ausgebeutet und mit einer Kultur der Angst verkrüppelt hat, die in der arabischen Welt nahezu beispiellos dasteht – von Libyen abgesehen, jedoch ohne dessen Erdöl – und die Korruption der ehemals sowjetischen Republiken mit einer mit einer polizeilich überwachten Abschottung nach chinesischem Muster verbindet.“

Liest man heute „Das arabische Unglück“ von Samir Kassirs noch einmal, wird der aktuelle Epochenbruch in der Region in seiner historischen Tragweite erkennbar. Noch vor nur sieben Jahren befürchtete Kassir, dass dieses Unglück, das er im Scheitern der Moderne begründet sah, durch die Hinwendung der Araber zu antimodernen Paradigmen und theokratischen Reflexen nur verlängert und verstärkt zu werden droht. Die Eruptionen der Freiheit im gegenwärtigen „arabischen Frühling“ kann Samir Kassir nicht mehr erfahren. Am 2. Juni 2005 wurde er im Beiruter Stadtteil Achrafieh durch eine Autobombe vor seinem Haus getötet. Die Attentäter blieben bis heute unbekannt, Hinweise deuten auf den syrischen Geheimdienst.

5. Die gefälschte Verschwörung der Damaszener

Syrien ist im Aufbruch. Seit Wochen schon. Ob in Homs, am Mittelmeer, in den kurdischen Gebieten entlang der Grenze zur Türkei und dem Irak, in der südsyrischen Stadt Dar'a, oder selbst in ersten Vororten der Hauptstadt Damaskus: Die Menschen verlangen mehr als nur die Aufhebung des seit 1963 ununterbrochen herrschenden Ausnahmezustands. Sie fordern die Abdankung von Präsident Assad und das Ende der Einparteienherrschaft. Die Angst scheint überwunden, auch wenn das Geheimdienstregime blutig zurückschlägt. Es wird in die Menge geschossen und staatstreue Schlägerbanden überfallen die Aktivisten auf offener Straße. Dass all dies nicht planlos geschieht, beweist ein internes Dokument, das syrischen Menschenrechtlern aus Sicherheitskreisen zugespielt wurde und unlängst im Internet erschien.

Mit Datum vom 23. März enthält dieses Dokument der syrischen Staatssicherheit einen detailliert ausgearbeiteten Plan zur Zerstörung der Protestbewegung. Empfohlen wird, aus den „Fehlern“ in Tunesien und Ägypten zu lernen, gegebenenfalls mit aller Härte zuzuschlagen, zugleich aber die Demonstranten vom Rest der Gesellschaft zu isolieren, indem man sie gezielt zu Handlangern einer „ausländischen Verschwörung“ erklärt, hinter der die offiziell verhassten Saudis, „Zionisten“ und Amerikaner stehen sollen. Das Papier umfasst einen detailliierten Einsatzplan der Konterrevolution. Zivile Agenten sollen sich als demokratische Aktivisten tarnen, um während der Proteste die Sicherheitskräfte zu provozieren. Zuvor wären sie speziell geschult worden, um mit einfachen Techniken aus der Menge städtische Gebäude anzuzünden, Angriffe auf Sicherheitskräfte anzuführen, oder schnell und ohne Skrupel mit Messern töten zu können. Scharfschützen sollen, nach dem Wortlaut des Dossiers, zwar nur im Notfall in die Menge schießen, im Falle einer Eskalation aber eine Anzahl von Demonstranten töten, „nicht mehr als jeweils zwanzig“.

In konkreten Szenarien, „wenn die Zahl junger Leute in den Städten höher als 5.000 ist“, sollen die Demonstrationen in unkalkulierbare Gewaltexzesse getrieben werden. Darüber hinaus sollen konfessionelle Gruppen, insbesondere den Alawiten und Sunniten, durch religiöse Hassparolen gegeneinander aufgehetzt werden. Letzteres blieb kein Geheimdienstswunsch. So ließen in Lattakia und Tartous zivile alawitische Agenten über Megaphone den alawitischen Präsident Assad hochleben, während sie sunnitische Demonstranten mit Messern abschlachteten. In Aleppo brannten salafitische Plünderer Dörfer nieder und beschimpften die alawitischen Bewohner als Apostaten und Ungläubige. In der arabischen Welt wird an der Echtheit dieses Geheimdienstberichts nicht gezweifelt. Die syrischen Demonstranten delegimierten jetzt das Regime, indem sie die Staatssicherheitspapiere im Internet veröffentlichten. Unterdessen hat Präsident Assad das Ende des Ausnahmezustands angekündigt. Auf ihn, auch das enthüllt ein im Internet aufgetauchter Gesetzesentwurf, folgt ein neues Anti-Terror-Gesetz, was kaum größere Freiheiten verspricht. Auf die Proteste wird weiterhin scharf geschossen.

6. Das digitale Gedächtnis

Beirut, in der schiitischen Südstadt. Seit Jahren schon sammeln Monika Borgman und Lokman Slim Fotografien von „Verschwunden“ des libanesischen Bürgerkrieges. In ihrem auch von medico unterstützten Kulturprojekt UMAM wurden die alten Bilder digital aufbereitet und in einer aufsehenerregenden Ausstellung mit dem Titel "Missing" im Jahr 2008 der libanesischen Öffentlichkeit vorgestellt. Mittlerweile wurde die Ausstelung nicht nur in Beirut gezeigt, sondern auch in anderen Regionen des Landes. Jedes Mal kommen Überlebende und Familienangehörige zusammen, bringen neue Fotos oder ergänzen die bislang vorliegenden Informationen über das Schicksal der Personen. Auch heute beginnt Monika Borgmann ihren Arbeitstag damit, dass sie auf dem Facebook-Account von UMAM ein Bild aus der bestehenden Sammlung veröffentlicht.

Die meisten der Verschwundenen starben oder "verschwanden" im zurückliegenden Bürgerkrieg bzw. während der syrischen Präsenz im Libanon. Die Freilassung all jener, die von Israel oder seinen Alliierten, etwa der südlibanesischen Armee (SLA), entführt worden waren, war lange Jahre eine Frage der "nationalen Solidarität" und entsprechend populär waren die Verhafteten. Dass im gleichen Zeitraum aber in syrischen Gefängnisssen weitaus mehr libanesische politische Gefangene saßen, wurde dagegen mehrheitlich beschwiegen. Jede öffentliche Kritik an der syrischen Hegemonie im Land konnte bis zum Abzug der syrischen Armee im Jahr 2005 tödliche Folgen haben. Seit Ende der 1970er Jahre gab es hunderte politischen Aktivisten, die im Libanon verhaftet, zuweilen gefoltert, oder aber in die gefürchtete Gefängnisse nahe von Damaskus verschleppt worden waren. Riad Haddad war einer von ihnen. Der libanesisch-syrische Journalist und linke politische Aktivist wurde im Jahr 1980 aufgrund seiner Mitgliedschaft in der oppositionellen Kommunistischen Partei Syriens verhaftet und verbrachte über 15 Jahre in syrischen Gefängnissen. Rida Haddad wurde im Jahr 1995 entlassen. Kurz danach erkrankte er an Leukämie. Er hatte die Chance, seine Krankheit zu besiegen - Freunde hatten eine Knochenmarkstransplantation in Deutschland für ihn organisiert -, aber das syrische Regime unter dem Präsidenten Hafiz al-Asad verweigerte ihm in einem letzten Akt der Gnadenlosigkeit die Ausreise. Riad Haddad verstarb am 10. Juni 1996 in einem Krankenhaus in Damaskus. Noch auf dem Sterbebett schrieb er seine Erinnerungen nieder, die nach seinem Tod außer Landes gebracht wurden.

7. Der Preis der Freiheit

Im Jahr 1998 erschien Riad Haddads Bericht „Gefangener #61“ beim Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten (INAMO). medico unterstützte damals die Übersetzung und Drucklegung dieser Erzählung, in der erstmals ein ehemaliger politischer Gefangener aus Syrien über die Erfahrungen seiner Haft berichtet. Die Publikation ist längst vergriffen, auch eine elektronische Datei des Textes existiert nicht mehr. Wir haben eines der letzten Hefte eingescannt, um Riad Haddads Vermächtnis, jetzt, wo die Freiheit in Syrien erneut erwacht, der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen. Die Lektüre und die instruktive Einleitung von Jürgen Loer lohnen noch heute.

Martin Glasenapp


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