Fonds für Bewegungsfreiheit

Gescheiterte Kriminalisierung

27.08.2024   Lesezeit: 5 min

Zum Versagen des Kampfes gegen Schleuserei und der Suche nach Alternativen. Von David L. Suber

Die europäischen Institutionen und die EU-Mitgliedstaaten nutzen den Kampf gegen Schleuserei als Mittel zur Kontrolle der sogenannten irregulären Migration. Der Rechtsruck bei den Europawahlen im Juni deutet darauf hin, dass dies auch in Zukunft der Fall sein wird.

Nach Ansicht von Entscheidungsträger:innen aus einem breiten politischen Spektrum sind restriktive Migrationsgesetze, Externalisierungsabkommen mit Drittstaaten und die Militarisierung der Grenzen notwendig, um ungewünschte Migration zu stoppen und schutzbedürftige Migrant:innen vor skrupellosen kriminellen Banden zu schützen. Damit sollen sowohl sicherheitspolitische als auch humanitäre Ziele erreicht werden.

Doch diese Maßnahmen, die auch in Australien, Kanada und den USA angewendet werden, fördern eine globale Apartheid und erweisen sich zudem als unwirksam. Nach Angaben der EU-Kommission stagnierte die Zahl der sogenannten irregulären Grenzübertritte nach Europa seit den massiven Grenzschutzmaßnahmen in Reaktion auf den Sommer der Migration 2015 zunächst, stieg jedoch seit 2020 wieder an. Dasselbe gilt für die Zahl der Toten und Vermissten an Europas Grenzen.

Gleichzeitig hält die sogenannte Schleuserei an, sowohl auf bekannten als auch auf weniger genutzten Routen, wie der russisch-finnischen Grenze, bei der riskanten Überfahrt von Westafrika zu den Kanarischen Inseln sowie auf längeren und gefährlicheren Fluchtwegen von der Türkei und dem Libanon nach Zypern und Italien. Offensichtlich scheitert der Kampf gegen Schleuserei. Dennoch werden die gleichen Maßnahmen immer wieder vorgeschlagen, mit enormen öffentlichen Ausgaben und wenig Erfolg.

Beschränkung von Fluchtmöglichkeiten

Der neue EU-Pakt für Migration und Asyl (GEAS) wurde im April 2024 vom EU-Parlament befürwortet. Eines seiner Hauptziele ist die Straffung der Grenzverfahren, um Menschen, denen Chancen auf einen Asylstatus zugerechnet werden, effizient von denen zu trennen, deren Ablehnung erwartet wird. Letzteren wird von vornherein der Zugang zum Asylverfahren verwehrt. Zudem bleibt die Verantwortung für ankommende Migrant:innen und die Bearbeitung ihrer Asylanträge bei den Ländern, in die sie zuerst eingereist sind.

Ein weiteres Schlüsselelement des EU-Pakts ist die Verlagerung des Grenzschutzes in benachbarte Drittländer. So hat die EU nicht nur die Abkommen mit der Türkei (2021) und Tunesien (2023) erneuert, sondern auch die Entwicklungsfinanzierungsabkommen mit Bosnien, Serbien, Mauretanien, Marokko, Ägypten und dem Libanon aus dem 9,9 Mrd. EUR schweren Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds 2021-2027 ausgebaut. Hinzu kommt die beispiellose Aufstockung des Budgets von Frontex, der EU-Grenzschutzagentur, das exponentiell von 6 Mio. EUR im Jahr 2006 auf heute über 800 Mio. EUR angewachsen ist – und somit den größten Zuwachs einer EU-Agentur überhaupt verzeichnet.

Darüber hinaus schlägt dieEU-Kommission derzeit umfangreiche Änderungen des Rechtsrahmens für die Bekämpfung des sogenannten Menschenschmuggels vor, die im sogenannten „Facilitators Package“, das erstmals 2002 verabschiedet wurde, skizziert sind. Während die neue Richtlinie formal darauf abzielt, humanitäre Hilfe vor Kriminalisierung zu schützen, erweitert sie die Befugnisse der Staaten, das Strafrecht als Instrument zur Durchsetzung von Migrationskontrollen zu nutzen, und ermöglicht den unregulierten Einsatz digitaler Überwachungssysteme zur Sammlung von Informationen über Menschen auf der Flucht.

All diese politischen und legislativen Maßnahmen zielen darauf ab, die Flucht-Möglichkeiten von Menschen, die ihr Heimatland verlassen müssen, weiter einzuschränken, ohne etwas an den Fluchtgründen zu ändern. Im Gegenteil: eine wirksame politische Reaktion sollte sichere Migrations- und Fluchtwege schaffen und nicht das Geschäft von sogenannten Schleusern fördern.

Das Scheitern des Kampfs gegen Schleuserei ist auf die Auffassung zurückzuführen, dass „Menschenschmuggel“ ein kriminelles Phänomen sei, das nur durch verstärkte Überwachung und Abschreckung bekämpft werden könne. Dabei werden unbequeme Tatsachen ignoriert, die darauf hindeuten, dass die Aufrüstung von Grenzen den sogenannten Menschenschmuggel begünstigt und die Verletzlichkeit von Menschen auf der Flucht erhöht. Dadurch wird genau das Gegenteil von dem erreicht, was ursprünglich beabsichtigt war: Durch die aktive Begrenzung von Fluchtwegen werden Schleuserdienste nur noch gefragter und notwendiger, um Nordeuropa zu erreichen, das oft als das bevorzugte Ziel angesehen wird.

Der Blick über den Tellerrand

Es braucht neue Paradigmen, um über Migration und ihren Umgang nachzudenken. Die zentralen Missverständnisse über Schleuserei müssen in Frage gestellt werden. Entgegen der stereotypischen Vorstellung von Schleuserbanden als hyperorganisierte Netzwerke zeigen empirische Studien, dass sogenannter Menschenschmuggel eher als eine Dienstleistung zu verstehen ist, die von einer enormen Vielfalt von Akteur:innen erbracht wird. Schleuserei sollte als ein Kontinuum beschrieben werden, das von strategischen Gruppen, die diverse Dienste anbieten bis hin zu Eigeninitiativen von Asylbewerber:innen reicht, die ihre eigene Reise und die ihrer Mitreisenden organisieren.

Ein erster Schritt in diese Richtung wäre es, Schleuserei als ein Phänomen zu verstehen, das gemeinschaftsbasierte Unternehmen beinhaltet, die sich auch aus Frauen und Kindern (nicht nur aus Männern) zusammensetzen, die oft durch verwandtschaftliche und familiäre Verbindungen zusammenarbeiten, die auf Vertrauen und Reputation beruhen und deren Einnahmen zur Unterstützung marginalisierter Grenzgemeinschaften beitragen und in die lokale Wirtschaft zurückfließen.

Gleichzeitig sind Menschen auf der Flucht, Migrant:innen und Schutzsuchende auf ihrem Weg nach Europa zunehmend Gewalt und Einschüchterung durch Schleuser:innen, kriminellen Banden und Grenzbehörden ausgesetzt. Kurzsichtige Ansätze zur „Beendigung der Schleuserei“ oder zur „Lösung der irregulären Migration“ führen jedoch zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, bei der die Kriminalisierung mehr Verbrechen schafft als sie verhindert. Ähnlich wie bei der Kriminalisierung von Drogenkonsum und Sexarbeit drängt die Bekämpfung von Schleuserei das Geschäft weiter in den Untergrund, zum Nachteil der Gemeinschaften, die es am meisten brauchen.

Staaten sollten Schritte zur Entkriminalisierung des Menschenschmuggels unternehmen, um den Bedarf an sicheren Migrationswegen für Menschen, die vor Krieg und den verheerenden Auswirkungen des Klimawandels fliehen, zu schaffen und Migration dabei als eine Chance betrachten.

Die Entkriminalisierung von Migration und der Beihilfe zur Einreise könnte die Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden auf die Verhinderung und Aufdeckung von gewaltvollen Formen von Schleuserei konzentrieren. Denn diese sind oftmals verwoben mit Entführungen, Erpressungen, Gewalt und Ausbeutung von Migrant:innen und Asylbewerbern bis hin zu Menschenhandel und „moderner Sklaverei“.

David L. Suber promoviert am UCL Jill Dando Institute of Crime Science über die Überschneidung von organisierter Kriminalität, Menschenschmuggel und Grenzpolizei und ist Gastwissenschaftler an der Universität Oxford. Außerdem ist David Suber Co-Direktor des Journalistenkollektivs Brush & Bow und produziert multimediale forensische Untersuchungen und Videodokumentationen.

Mit dem Fonds für Bewegungsfreiheit unterstützen wir Menschen, die an den Rändern Europas unrechtmäßig in Gefängnissen sitzen oder sich verteidigen müssen. Wir finanzieren Prozess- und Anwaltskosten, unterstützen im Alltag und schaffen mit öffentlichen Kampagnen Aufmerksamkeit – weil Flucht kein Verbrechen ist. Helfen Sie uns dabei!


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