Gesundheit für alle im Jahr 2000 – das war das Schlagwort der optimistischen 70er Jahre. Damals sollte mit dem Primary-Health-Care-Konzept in der internationalen Gesundheitsdiskussion die Verteilung von Gesundheitsressourcen und -wissen mit BasisgesundheitsarbeiterInnen und dezentralen Gesundheitsdiensten demokratisiert werden. Und auch den sozialen Bedingungen für Krankheit und frühen Tod, Armut, Mangelernährung, krank machende Wohn- Arbeits- und Lebensverhältnisse wurde der Kampf angesagt.
Die Alma-Ata-Konferenz, auf der sich die Regierungen der Welt dieses Konzept zu eigen machten, jährt sich 2008 zum 30. Mal. Die aktuellen Prognosen, zumindest die viel bescheideneren gesundheitsbezogenen Milleniumsentwicklungsziele (Reduzierung von Müttersterblichkeit um drei Viertel, Kindersterblichkeit um zwei Drittel der Ausgangswerte von 1990; Eindämmung und Zurückdrängung der großen Infektionskrankheiten HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria) noch bis zum Stichtag 2015 zu erreichen, stehen schlecht. Dies teilte dieser Tage die Chefin der Weltgesundheitsorganisation, Dr. Margaret Chan, mit. Wie sieht es in weiteren 30 Jahren mit der Weltgesundheit aus?
Ein pessimistischer und ein optimistischer Blick seien gewagt:
Pessimistisch gesehen verschärft sich die gegenwärtige Tendenz der "Archipelisierung der Welt". Wohlstandsinseln sind umgeben von prekären, ungesicherten bis elenden Lebenswelten, deren BewohnerInnen Objekte wohltätiger Hilfe und kaum kontrollierter Ausbeutung sind. Das privatisierte Hightech- Krankenhaus und die wellness-orientierte individuelle Gesundheitsförderung und -vorsorge stehen den globalisierten Eliten und Mittelklassen zur Verfügung. Der zunehmende Medizintourismus hilft den unter zunehmenden Kostendruck geratenden Krankenkassen in der "ersten Welt", die Lohnvorteile zugunsten der eigenen Versicherten auszunutzen. Das produzierende Gewerbe hat diese Lohnentwicklung mit der Auslagerung der Werkbänke in die Niedriglohnregionen Osteuropas, Asiens und Lateinamerikas schon längst realisiert.
Auf Kosteneffizienz optimierte "Behandlungspakete" für die dramatischsten Gesundheitsprobleme, besonders für infektiöse Erkrankungen der Armen werden eine karitative minimale Grundversorgung für die Habenichtse dieser Welt liefern, ergänzt um spektakuläre Katastropheneinsätze von routinierten Hilfswerken, die in den zunehmenden Katastrophen des Klimawandels von einer Überschwemmung zum nächsten Dürre-Einsatz unterwegs sind. "Pragmatische" Regelungen werden auch die Körper der Armen zu Handelsgütern gemacht haben: Lebendorganspenden werden transnational und kommerzialisiert organisiert und bieten den Spendern eine zumindest vorübergehenden Ausweg aus der Armut. Medikamentenversuche werden in noch stärkerem Maße in den großen Ländern des Südens stattfinden, in denen die Teilnahme an solchen Versuchen medizinische Behandlungen auch für arme chronisch Kranke ermöglicht.
Optimistisch gesehen haben sich in 30 Jahren ganz andere Verhältnisse durchgesetzt: Das Modell des "Universellen Zugangs zur Behandlung für HIV/AidsBetroffene", 2006 auf UN-Ebene verabschiedet, hat sich über das Ausnahmebeispiel Aids hinaus durchgesetzt: als rechtliche Verpflichtung der Weltgemeinschaft, die extremen Unterschiede in den Ressourcen für Gesundheitsversorgung durch eine weltweite "solidarische Ausgleichsfinanzierung" anzugehen.
Der exemplarische Ausbau von Behandlungseinrichtungen für Aids-Kranke, Behandlungsprogramme gegen Tuberkulose und Malaria durch Mittel des Global Fund hat in den hauptsächlich betroffenen Ländern in der Fläche Gesundheitsdienste entstehen lassen und gestärkt. Eine bessere Bezahlung der ÄrztInnen, PflegerInnen und GesundheitsarbeiterInnen hat den Trend zur Abwanderung aus dem öffentlichen in den privaten Sektor und von den armen in die wohlhabenden Länder gebrochen.
Den Aids-Aktivisten sind andere "Gesundheitsbewegte" gefolgt und haben mit ihnen zusammen erfolgreich dafür gestritten, dass ein partizipatives, die Patienten beteiligendes und für alle zugängliches Gesundheitswesen entsteht.
Und was wird nun in 30 Jahren sein? Wie schon vor 40 Jahren gilt auch für heute:
Seien wir realistisch – fordern und fördern wir das Unmögliche!
Andreas Wulf, Arzt und Projektkoordinator Medizin bei medico international