Auch wenn das zynisch klingen mag: es versteht sich gleichsam von selbst, dass es Hilfsorganisationen gibt, und es bedarf keiner weiteren Begründung, dass sie ihre Arbeit vor allem im globalen Süden, aber auch in den Armutszonen des globalen Nordens tun.
Mehr noch: jedeR weiß, dass Hilfsorganisationen in den letzten Jahren immer mehr zu tun bekamen und in den nächsten Jahren noch mehr zu tun haben werden, „notfalls“ in drastischem, vielleicht gar nicht mehr zu bewältigendem Maß – Stichwort „Klimakatastrophe“. Zur Selbstverständlichkeit der Hilfe gehört, dass klar zu sein scheint, was „Hilfe“ eigentlich ist und zu sein hat: in erster Linie die Bereitstellung von Notunterkünften und Lebensmitteln, schließlich die Bekämpfung epidemischer Krankheiten, in der Regel der Massenkrankheiten der Armut. Gänzlich zur freiwilligen Gabe scheint Hilfe schließlich dort zu werden, wo sie über Nothilfe hinaus geht, mittel- und langfristig angelegt wird, zuletzt „Hilfe zur Selbsthilfe“, staatlicherseits „Entwicklungshilfe“ wird. Dazu passt dann, dass von ihr immer weniger die Rede ist, dafür umso mehr von „Krisenprävention“ und „Katastrophenmanagement“, nicht zuletzt und forciert im Rahmen des globalen „Kriegs gegen den Terror“.
Der Schein täuscht hier allerdings so wie anderswo auch. So sehr Hilfe in ethisch-moralischer Perspektive auf der Bereitschaft gründet, dem in Not geratenen Anderen spontan beizustehen – Abhilfe geschaffen, Not gewendet ist damit noch lange nicht. So resultiert Gesundheit, klassisches „Mandat“ vieler Hilfsorganisationen, keinesfalls aus der Bereitstellung von ÄrztInnen und Medikamenten, auch wenn beide zur Genesung von Krankheit gebraucht werden. Denn Gesundheit ist, so heißt es im Selbstverständnis von medico international, „nicht einfach ein physisches, sondern ein soziales, ökonomisches, kulturelles und politisches Problem. Gesunde Lebensverhältnisse werden nicht nur von Ärzten, Arzneimitteln und Krankenhäusern bestimmt, sondern zuerst von ausreichender Ernährung und Einkommen, von menschengerechten Wohnverhältnissen. Zur Sorge um die Gesundheit gehört auch der Kampf um selbstbestimmte Entfaltungsmöglichkeiten der einzelnen und der sozialen Gruppen, die Entwicklung und Förderung einer lebendigen Kultur und die Schaffung und Anerkennung gleicher sozialer Rechte für alle.“
Mit dieser Position steht medico nicht allein, sondern stützt sich dabei auf die Europäische Sozialcharta (1960) und den Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (1966), in denen ein „Recht auf Gesundheit“ festgeschrieben wurde – neben und mit dem Recht auf Arbeit, auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, auf Zusammenschluss in Gewerkschaften, auf soziale Sicherheit, Schutz von Familie, Mutterschaft und Kindern, auf angemessenen Lebensstandard (Ernährung, Bekleidung, Unterkunft) sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen, dem Recht auf Bildung, auf Teilnahme am kulturellen Leben, am wissenschaftlichen Fortschritt und seiner Anwendung. Berufen können sich medico und andere Hilfswerke auch auf die 1978 von den Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedete Deklaration von Alma Ata, in der es eingangs heißt: „Gesundheit ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern ein Zustand höchsten körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Sie ist ein fundamentales Menschenrecht, und das Erreichen des höchstmöglichen Gesundheitszustands ist weltweit ein hoch bedeutendes soziales Ziel, dessen Verwirklichung das Handeln nicht allein des Gesundheitssektors, sondern vieler anderer sozialer und ökonomischer Sektoren bedarf.“
Die Konferenz von Alma Ata verpflichtete die Mitgliedsstaaten der WHO, das Menschenrecht auf Gesundheit im Jahr 2000 verwirklicht zu haben.
Nicht nur, aber auch weil die WHO-Staaten ihrer Verpflichtung noch immer nicht nachgekommen sind und ihr mittlerweile auch gar nicht mehr nachkommen wollen, müssen Hilfs- und Gesundheitsorganisationen auch Menschenrechtsorganisationen sein. Sie können den Schutz und die Durchsetzung der Menschenrechte nicht denen überlassen, die formell dazu verpflichtet sind, sondern müssen dies zu ihrer eigenen Sache machen, im Verbund mit sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, in lokalen und in globalen sozialen Kämpfen. Dort wird in den letzten Jahren um Globale Soziale Rechte gestritten. Der Begriff ist nicht einfach ein Synonym des älteren Begriffs der Menschenrechte, sondern nimmt diese in der Perspektive ihrer Verteidigung und ihrer Durchsetzung „von unten“ in den Blick – und in der Perspektive anderer, bisweilen formell noch nicht artikulierter Rechte, die mit ihnen zu verteidigen und durchzusetzen sind. Und: Der Begriff benennt eine andere Globalisierung als die, zu deren Durchsetzung sich die Mehrheit der Staaten, deren internationale Institutionen und die transnationale Ökonomie zusammengeschlossen haben. Er benennt damit auch andere globale Zusammenschlüsse, etwa den des People’s Health Movements (PHM), einer weltweiten Allianz von Gesundheits- und Menschenrechtsorganisationen, in deren Charta es heißt: „Gesundheit ist eine soziale, ökonomische und politische Aufgabe und ist vor allem ein Menschenrecht. Ungleichheit, Armut, Ausbeutung, Gewalt und Ungerechtigkeit sind Ursache von Krankheit und Tod bei all denen, die in Armut oder am Rande der Gesellschaft leben. Gesundheit für Alle bedeutet, mächtige Interessen herauszufordern, der Globalisierung entgegenzuwirken und politische wie ökonomische Prioritäten drastisch zu verschieben.“
Zur Logik der Menschen- und der Globalen Sozialen Rechte gehört, dass die Bezüge, die medico und das People’s Health Movement vom Recht auf Gesundheit zu allen anderen Rechten herstellen, auch von jedem anderen Recht aus hergestellt werden können, von dem auf Nahrung etwa oder auch dem auf Bildung: auch hier geht es nie nur um Nahrung, nie nur um Bildung. Nimmt man dazu, um darauf zurück zu kommen und damit zu schließen, die Rechte hinzu, die formell noch gar nicht anerkannt wurden, erschließt sich deren im Wortsinn weltgesellschaftliche, weil eine Weltgesellschaft erst eröffnende Dimension: eine Dimension, der sich zu verpflichten ein Gebot der Gerechtigkeit ist. Im konkreten Fall der Gesundheit führt dies auf drei nächste und zugleich grundlegende Ziele: erstens das nach Partizipation der Leute an der Definition von Gesundheitsproblemen und der Suche nach Lösungswegen, zweitens das nach Entmonopolisierung des medizinischen Wissens und drittens das nach Umstrukturierung des Gesundheitswesen von der Spitze zur Basis. Global und egalitär verwirklicht werden können schon diese nächsten Ziele nur durch einen umfassenden Ausgleich der dazu nötigen Ressourcen im Norden und vom Norden in den Süden.
Thomas Seibert, medico international