Die angekündigte Katastrophe findet statt – Die Immunschwäche Krankheit AIDS ist vor allem in den Ländern des Afrikanischen Kontinents südlich der Sahara zur bedrohlichsten Erkrankung für Erwachsene geworden und droht ganze Familien, Dörfer, Stadtsiedlungen und Landstriche zu entvölkern.
Das Mosambikanische Gesundheitsministerium schätzt, dass im Jahr 2002 ca. 65.000 MosambikanerInnen an den Folgen von AIDS gestorben sind, im Jahr davor waren es 45.000 gemeldete Todesfälle, die Hälfte bis zwei Drittel davon in der Zentralregion Mosambiks. UNAIDS schätzt die Zahl der MosambikanerInnen, die mit dem HI-Virus infiziert sind, auf 1 Million der ca. 18,6 Millionen Menschen in diesem Land, in den Altersgruppen von 20 bis 40 Jahren sind das vermutlich jedeR Fünfte bis Vierte. Jeden Tag infizieren sich schätzungsweise 500 Menschen neu mit HIV .
Die sozialen und persönlichen Dimensionen dieser Zahlen sind wie bei allen Statistiken schwer zu erfassen, aber um allein die Größenordnung zu verdeutlichen, nenne ich zum Vergleich die Zahlen aus Deutschland: Bei uns leben derzeit etwa 40.000 Menschen mit dem Virus. Schätzungsweise 2.000 Menschen haben sich im Jahr 2001 neu infiziert, 600 starben in dem Jahr an den Folgen der Immunschwäche . Die Häufigkeit der Infektion in unserer Bevölkerung lag damit bei unter 0,1%, im Gegensatz zu 12,5% in Mosambik um selben Jahr.
Es ließen sich noch viele Schreckenszahlen berichten: Projektionen der Bevölkerungsentwicklung, der wirtschaftlichen Verluste durch den Tod gerade der jungen Erwachsenen, der ökonomisch produktiven Altersjahrgänge und die verheerenden Folgen für die Kinder, deren Eltern sterben.
Allgemeine Gesundheitsbedingungen
Zunächst soll jedoch von den allgemeinen Gesundheitsbedingungen in den Ländern des südlichen Afrika die Rede sein und einen Eindruck von den zusätzlichen, altbekannten und weiterhin ungelösten Gesundheitsproblemen vermittelt werden, zu denen die neue Epidemie hinzutritt und sie oftmals in ihrer Dramatik verschärft. Erst vor einem solchen Hintergrund werden auch die Schwierigkeiten verständlicher, die einer Bekämpfung der Epidemie im Wege stehen.
Gesundheit - diese alte Erkenntnis der sozialen Medizin soll hier einleitend betont werden – ist erst in zweiter Linie ein „Produkt“ des Gesundheitswesens, so wichtig dieses im Falle der Krankheit auch ist. In erster Linie sind es allgemeine Lebensbedingungen, die uns gesund bleiben lassen – gute, ausreichende Ernährung, sauberes Wasser, Abfall- und Abwasserentsorgung, ein ordentliches Dach überm Kopf, Zugang zu Bildung, Ausbildung und Einkommen, die Abwesenheit von Gewalt und Krieg und auch von Diskriminierung und Ausgrenzung, verlässliche soziale und persönliche Beziehungen. Was banal erscheint, beschreibt doch die fundamentalen Hindernisse, die in allen Ländern des südlichen Afrika wesentlich das „Recht auf Gesundheit“ , behindern.
Ursachen dafür sind in der Geschichte leicht zu finden: Der jahrzehntelange Bürgerkrieg in Angola, die rassistische und ungleiche Ressourcenverteilung in den Apartheidstaaten Namibia und Südafrika, die weltweite Verschuldungskrise, die die kostenfreien öffentlichen Schul- und Gesundheitsdienste unter dem Diktat der neoliberalen Haushaltssanierung zerschlug, nicht vollzogene Landreformen, die die Lebensgrundlagen der ländlichen Bevölkerung auch nach dem Ende der Kolonial- und Apartheid Regime weiter im prekären Subsistenz-Elend ließen. Sie alle haben die Staaten des Südlichen Afrika im Index der menschlichen Entwicklung auf die hinteren Ränge verwiesen. Dort liegen Südafrika auf Rang 107 und Mosambik auf Rang 170 von 174 aufgelisteten Staaten der Welt.
Entsprechend verbreitet sind die Gesundheitsprobleme, die als Krankheiten der Armut und Unterentwicklung bekannt sind:
- Die Kindersterblichkeit erreicht in Mosambik 20%, d.h. von 1.000 geborenen Kindern sterben 200 bevor sie 5 Jahre alt sind.
- Die Müttersterblichkeit lag Mitte der 90er Jahre zwischen 350 pro 100.000 Lebendgeburten in Südafrika und 1.500 in Angola.
- Mangel- und Unterernährung betreffen ein Drittel aller Kinder im südlichen Afrika.
- Die Eiweißversorgung hat sich im Laufe er 90er Jahre in Zimbabwe, Kenia, Uganda, Sambia und Malawi sogar noch um 15% verschlechtert, was die Bedrohlichkeit von und Anfälligkeit für Infektionskrankheiten massiv erhöht.
- Die Sterblichkeit an Malaria, die besonders in Angola, Malawi, Sambia, Zimbabwe und Mosambik für bis zu einem Viertel aller Todesfälle von Kleinkindern verantwortlich ist, wird durch Mangelernährung stark gefördert.
- Atemwegserkrankungen und Masern, die zu den häufigsten Todesursachen kleiner Kinder im Südlichen Afrika zählen, können ihre tödliche Wirkung vor allem im Zusammenspiel mit Mangelernährung entfalten.
Auch bei der Tuberkulose ist das Zusammenspiel der spezifischen Krankheit mit den allgemeinen Lebensbedingungen gut bekannt. Die hohen und weiterhin steigenden Zahlen besonders in Südafrika, Mosambik und Zimbabwe haben allerdings nicht nur ihre Ursache in unzureichenden Wohn- und Lebensbedingungen, sondern wird wesentlich durch die immunschwächende Wirkung des HI-Virus gefördert (man schätzt bis zu 65% aller Fälle). Mangelnde Versorgung mit sauberem Trinkwasser und sicheren Abwassersystemen macht vor allem die Bekämpfung von Durchfallerkrankungen und Darmparasiten zu einer nie endenden Sisyphos-Arbeit und führte in Südafrika in den Jahren 2000-2001 zur schlimmsten Cholera-Epidemie aller Zeiten mit über 115.000 Erkrankungen und über 200 Todesfällen.
Die finanzielle Seite der Gesundheitsversorgung
Diese krankmachenden Lebenswirklichkeiten werden im Südlichen Afrika durch die Unzulänglichkeiten von Gesundheitssystemen verschärft, die den Bedürfnissen der Menschen aus vielerlei Gründen nicht gerecht werden. In den ärmsten Ländern wie Malawi und Mosambik stehen jährlich pro Kopf nicht mehr als 5 US$ für öffentliche Gesundheitsausgaben zur Verfügung. Damit ist selbst ein „Minimalpaket“ der notwendigen Gesundheitsdienste, das die Commission on Macroeconomics der WHO im letzten Jahr mit 30-40 US$/Kopf berechnet hat, nicht aus eigener Kraft finanzierbar. Unter dem Druck der Schuldenkrise wurden besonders in den 80er Jahre die staatlichen Ausgaben für die Gesundheitsdienste massiv abgebaut – in Sambia halbierte sich in dieser Dekade die staatlichen Gesundheitsausgaben . Aber auch in den „Middle-Income-Ländern“ Südafrika, Namibia und Botswana, wo zwischen 130 (Botswana) und 250 US$ (Südafrika) aufgebracht werden, ist eine sicherer Zugang zur Gesundheitsversorgung oft nicht gewährleistet . So kommen in der Western Cape Provinz in Südafrika auf einen Arzt 650 EinwohnerInnen, in ländlichen Gebieten des Eastern Cape sind es bis zu 30.000 EinwohnerInnen. Die mangelnde Versorgung besonders des öffentlichen Gesundheitssektors vor allem der ländlichen Gebiete mit Fachkräften wird durch die massive Abwanderung in Staaten mit besseren Einkommens- und Karrieremöglichkeiten wie Australien, Kanada, Großbritannien und die USA noch verschärft. Ein Drittel bis die Hälfte der Absolventen der südafrikanischen Medical Schools verlassen kurz nach dem Examen das Land. Zu diesem externen Brain-Drain kommt die interne Abwanderung von qualifiziertem Personal vom unterbezahlten und schlecht ausgestatteten öffentlichen Sektor in private Kliniken und Krankenhäuser – eine qualifizierte Versorgung ist durch die zumindest nominell für die Ärmsten noch kostenlosen staatlichen Gesundheitseinrichtungen oft nicht mehr möglich. Diese Zwei-Klassen-Medizin wird durch die markt- und wettbewerbswirtschaftlichen Konzepte der mächtigen Institutionen Weltwährungsfonds und Welthandelsorganisation gefördert (in der Weltbank sind skeptischere Stimmen zumindest hörbar). Anstatt das Gesundheitswesen auf solidarische Sicherung auszubauen, betrachten sie es in erster Linie als Dienstleistungsmarkt, in dem nur die kaufkräftigen Kunden bedient werden.
AIDS im Südlichen Afrika Erst vor diesem Hintergrund wird einiges von der besonderen Dynamik und Dramatik der afrikanischen HIV/AIDS-Epidemie verständlich, die sich dort so massiv ausbreiten konnte wie bisher sonst nirgendwo.
Zu den schon eingangs erwähnten Zahlen gebe ich noch ein paar besonders dramatische Ausblicke: Die Lebenserwartung der Menschen in den Ländern des südlichen Afrika wird wahrscheinlich noch deutlicher sinken, als sie es seit Mitte der 90er Jahre bereits tut – erst in den letzten zwei bis drei Jahren haben auch die AIDS-Todesfälle dazu beitragen. Dies wird sich weiter verschärfen, Prognosen deuten auf unter 40 Jahre für die am stärksten betroffenen Länder wie Botswana und Zimbabwe. Für die heute 15 jährigen wird die Wahrscheinlichkeit, an AIDS zu sterben auf 80 % vorhergesagt.
Die dramatischen Folgen aus diesen Prognosen werden jetzt schon punktuell sichtbar: Die „Breadwinner“ der Familien werden krank und sterben. Die Familien verlieren nicht nur die geliebten Menschen, sondern erschöpfen ihre Ersparnisse für Medikamente und Pflege. Die Subsistenzwirktschaft kommt zum Erliegen. Kinder müssen von ihren Großeltern oder anderen Verwandten aufgenommen werden oder schlagen sich allein als Kinder-Haushalte durch.
Auch Firmen und Unternehmen in diesen Ländern bemerken die Folgen der Epidemie – Mitarbeiter werden krank, sterben oder müssen immer häufiger zu Beerdigungen von Angehörigen. Die größten begannen bereits vor einigen Jahren mit eigenen Aufklärungsprogrammen. Jetzt sind sie auch oft bereit, medizinische Versorgung für ihre Mitarbeiter und Familien zu übernehmen, weil das günstiger ist, ihre Fachkräfte durch AIDS zu verlieren.
Als zumeist sexuell übertragene Krankheit unterliegt AIDS zudem traditionellen und modernen moralischen Tabus und Ausgrenzungen. Das spüren nicht nur die Betroffenen, denen oft die überlebenswichtige Solidarität der Gemeinschaften und mitunter auch der Familien entzogen wird, sondern es erschwert auch die Aufklärung und das Finden von Strategien zur Bekämpfung der Epidemie.
Die Ursachen für die enorme Ausbreitung des Virus besonders in den afrikanischen Ländern ist zweifellos auch ein komplexes Geflecht aus gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen: die aus Kolonialismus und Apartheid geformten Wege der Wanderarbeit und der globalisierten Warenproduktion nimmt das Virus als Wege des geringsten Widerstandes – zerrissene soziale Beziehungen, Armutsprostitution, Massenunterkünfte, einsame Überlandtransporte sowie in Alkohol ertränkte Perspektivlosigkeit sind hochgradig resistent gegen einfache Aufklärungsbotschaften und bunte Werbetafeln.
Wo sich solch strukturelle Gewalt in soziale Gewalt – und besonders häufig gegen Frauen als das „schwache Geschlecht“ in Vergewaltigungen auf dem Schulhof oder erzwungene oder „freiwillige“ Liebesdienste zur Sicherung des Familieneinkommens – umschlägt, werden die Botschaften der sexuellen Zurückhaltung und Selbstkontrolle oft zu hohlen Worthülsen, die den Opfern noch die Schuld geben, sich nicht entsprechend geschützt zu haben. Und wo gesicherte Lebensperspektiven nicht über die nächsten Wochen oder Monate hinausreichen, sind die intimen Beziehungen oft eine letzte Quelle der emotionalen Stärkung, gegen die die Verhütung einer in der Ferne liegenden Krankheit in dem Moment kaum wiegt.
Sowenig die „Armut“ als alleinige Ursache der Immunschwäche zu sehen ist (schon der Verweis auf Botswana als resourcenreiches „Middle-income-Country“ mit horrenden Infektionszahlen von bis zu 40% der erwachsenen Bevölkerung macht dies deutlich), so wichtig ist die Berücksichtigung des sozialen und gesellschaftlichen Kontextes, in dem diese Katastrophe stattfindet. Wenn die Präventionskonzepte nicht in weitergehende Perspektiven für die Menschen und Gesellschaften des südlichen Afrika integriert werden, wenn gesellschaftlicher Reichtum immer ungleicher verteilt wird und damit mehr Menschen von den „Entwicklungsversprechen“ abgekoppelt werden, wenn auch das „Zurück zur Subsistenz“ nur eine unrealistische Phantasie von Traditionalisten ist, dann führt die ausschließliche Forderung nach Prävention, zum Ausschluss der schon Infizierten, die als „Sicherheitsrisiko“ bezeichnet, nur noch - home based care versorgt - sterben dürfen.
Dagegen wehren sich mit zunehmender Vehemenz die Betroffenen selbst und darin liegt meines Erachtens die besondere Wichtigkeit dieser Bewegungen, die nicht nur in Südafrika für Behandlungsoptionen kämpfen: natürlich sind diese Optionen unter den herrschenden Bedingungen für die allermeisten Infizierten nur eine ferne, wahrscheinlich für sie selbst unerreichbare Möglichkeit – aber diese Möglichkeit hält am Recht der Menschen, soviel Zukunft wie möglich zu haben, fest und nicht nur soviel, wie er dafür individuell bezahlen kann.
Darin liegt ein Kern von Widerstand, der den düsteren Prognosen der AIDS-Epidemiologen etwas entgegensetzt: einen Überlebenswillen, der nicht nur für das individuelle Überleben, sondern auch für eine gerechte Teilhabe an den Ressourcen, der eigenen Gesellschaft, so wie der ganzen Welt streitet.