Ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben von Haiti wird überall in der Welt berichtet, was an Hilfen für die notleidende Bevölkerung unternommen wurde.
Auch medico international hat einen solchen Bericht vorgelegt. Der Wunsch der Spenderinnen und Spender schnelle Erfolge der Arbeit zu sehen ist angesichts der erschütternden Bilder und Berichte nur allzu verständlich. Die Befürchtung, Hilfe könnte nicht schnell genug ankommen, gerät nachgerade zu einem schwerwiegenden moralischen Vorwurf. So sind alle Organisationen, die in Haiti tätig sind, darum bemüht, die Wirksamkeit ihrer Hilfe in den Vordergrund zu rücken.
Doch können diese konkreten Bemühungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es kein abgestimmtes Konzept über den Wiederaufbau gibt. Es fehlt eine kritische Reflektion, die die sozialen Ursachen der Katastrophe thematisiert und Lehren für die zu leistende Wiederaufbauarbeit ziehen würden.
Um ein paar Punkte zu nennen:
Freihandel und Exportorientierung
Mit diesem neoliberalen Wirtschafts-Dogma sind internationale Kredite für Haiti seit den 80er Jahren verbunden worden. Als Ergebnis dieser von außen forcierten Wirtschaftspolitik ist in dem Agrar-Land Haiti die lokale Landwirtschaftsproduktion zusammengebrochen. Die bis dato wenige hunderttausend Bewohner umfassende Hauptstadt Port au Prince wuchs innerhalb weniger Jahre zu einer Drei-Millionen-Stadt, die seither vor allen Dingen aus Slums der verarmten Landbevölkerung besteht. Die erbärmlichen Lebensverhältnisse sind eine der Hauptgründe, warum so viele Menschen beim Erdbeben ums Leben kamen. Aus einem Land, das sich selbst versorgen konnte, ist heute ein Land geworden, das zu 80 Prozent von Agrarimporten abhängt. Und was exportiert Haiti? Es exportiert seine gut ausgebildete Fachkräfte: Ärzte, Krankenschwester, Ingenieure decken den Bedarf der nordamerikanischen Arbeitsmarktes. Ein Wiederaufbau Haitis gelingen, wenn diese Abhängigkeitsstrukturen aufgehoben werden und die Binnenwirtschaft, insbesondere die Landwirtschaft gestärkt wird.
Weniger Staat mehr NGOs
Die ohnehin schwachen staatlichen Strukturen wurden im Laufe der letzten 20 Jahre im stärker durch Hilfsorganisationen ersetzt. Das Recht auf Bildung oder Gesundheit aber kann nur durch eine soziale Infrastruktur, zu der alle Zugang haben, realisiert werden. Heute sind beispielsweise 80 Prozent der Bildungseinrichtungen in Haiti in privater Hand. Die Analphabetenrate liegt weit über 50 Prozent. Es fehlen legitime politische und gesellschaftliche Strukturen, die das Gemeinwohl repräsentieren und durchsetzen, genauso wie ein funktionierender Rechtsstaat. Hilfsorganisationen können Basisinitiativen fördern, die Teil einer gelebten Demokratie sein können, eine funktionierende soziale Infrastruktur können sie nicht ersetzen. Seit dem Erdbeben hat die Zahl der privaten Helfer erheblich zugenommen. Viele agieren mit gutem Willen aber auch nach Gutdünken. Die Entmächtigung der Haitianer hat so seit dem Erdbeben zugenommen. Nach den von Wahlbetrug gekennzeichneten Präsidentschaftswahlen, die auch aufgrund internationalen Drucks zustande kamen, stellt sich als einer der größten Herausforderungen für den Wiederaufbau die Frage, wie legitime, repräsentative demokratische Strukturen geschaffen werden können, die den Aufbauarbeiten einen politischen Rahmen geben können.
Sicherheit statt Entwicklung
Die internationale Sicht auf Haiti ist im Grunde seit der Selbstbefreiung der Sklaven geprägt von Abgrenzung, Vorurteilen und militärischer Intervention. Eine Letzte geschah durch die UNO, die seit der Absetzung des Präsidenten Aristide 2004 in Haiti für Sicherheit sorgt. Dabei ähnelt der Sicherheitsbegriff den Konzepten, die in Afghanistan und Irak angewandt werden. Statt Sicherheit durch sozialökonomische Entwicklung zu schaffen, kommen immer mehr Soldaten zum Einsatz. Haiti sei, so schreibt der ehemaliger Leiter der OAS-Mission (Organisation Amerikanischer Staaten), der Brasilianer Ricardo Seitenfus, „ein Objekt negativer Aufmerksamkeit durch das internationale System“. Haiti habe nur wegen seiner Nähe zu den Vereinigten Staaten Bedeutung und die Sicherheitsfrage beziehe sich vor allen Dingen darauf, nicht gewünschte Migration nach Nordamerika zu verhindern. „Die UNO sichert die Macht und verwandelt die Haitianer in Gefangene ihrer eigenen Insel“, so Seitenfus.
Haiti ist so ein paradigmatisches Beispiel für eine systematische Ausgrenzung und Marginalisierung, deren humanitäre Folgen durch internationale Hilfen nicht bewältigt werden können.
Schwerpunkte der medico-Arbeit in Haiti
Haiti kann nicht von außen aufgebaut werden. Es muss sich selbst aufbauen. Wie aber können die Menschen in Haiti diesen Prozess selbst in die Hand nehmen und bestimmen, wenn sich sie im alltäglichen Ringen ums Überleben erschöpfen? In einer auf Emanzipation ausgerichteten Projekt- und Partnerförderung, wie sie medico sich zum Prinzip gemacht hat, entsteht daraus ein Dilemma: Partner zu finden, die trotz der Umstände handlungsfähig sind und über eine stabile Struktur verfügen, oder Partner so behutsam zu fördern, dass sie zum eigenständigen und selbstbestimmten Handeln befähigt werden. Denn Nachhaltigkeit kann nur entstehen, wenn sich haitianische Strukturen entwickeln, die auch dann noch lebensfähig sind, wenn die „Geber“ weiter gezogen sind. Dass ausländische NGOs hierbei durchaus eine ambivalente Rolle spielen können, ist aus vielen Krisen-Situationen bekannt.
medico ist sich dieser schwierigen eigenen Rolle bewusst. Wir verfolgen deshalb drei Schwerpunkte, mit denen wir bereits in der Vergangenheit gute Erfahrungen bei der Bewältigung von Katastrophen gemacht haben: Wir fördern Gemeindeentwicklung über lokale Initiativen, die Bedarf und Notwendigkeit von Maßnahmen des Wiederaufbaus feststellen, abstimmen und organisieren; wir helfen bei der Entwicklung von Basisgesundheitsfürsorge, dass heißt die Förderung lokaler gesundheitlicher Ausbildung und Infrastruktur; Und wir betreiben einen aktiven Süd-Süd-Austausch, wir vermitteln die Erfahrungen von Menschen und Initiativen aus anderen Ländern, die sich in einer ähnlichen sozialen und wirtschaftlichen Lage befinden.
Hier drei Beispiele für die genannten Schwerpunkte:
Kommunale Entwicklung:
Unter der Ägide des Bürgerkomitee im Armenviertel Cité 9 finanziert medico den Wiederaufbau einer Brücke, die das 85.000 Einwohner-Viertel mit Port-au-Prince verbindet. Sie ist der einzige Zugang zur kommunalen Infrastruktur. Das Komitee kümmert sich um die Bauarbeiter, die ingenieur-technische Expertise, die Einbindung in die Stadtplanung.
Gesamtkosten: 88.000 Euro
Basisgesundheitsfürsorge:
Medico unterstützt die Arbeit der haitianischen Gesundheitsorganisation SOE in der Provinz Artibonite, in der jetzt gerade die Cholera ausgebrochen ist. Neben akuter Maßnahmen zur Bekämpfung der Cholera, werden die lokalen Gesundheitsstationen neu ausgerüstet, das lokale Personal weitergebildet, mobile Praxen mit Ärzten und Pflegepersonal eingerichtet.
Der Projektumfang beträgt 462.00 Euro. Die Laufzeit des Projektes ist geplant von Mai 2010 bis April 2013. Darüber hinaus wurden Mittel für die Cholera-Bekämpfung in Höhe von 15.000 Euro zur Verfügung gestellt.
Süd-Süd-Austausch:
Er begann mit der Nothilfe, die maßgeblich Gesundheitskollegen aus der Dominikanischen Republik geleistet haben. Er setzt sich fort mit der Arbeit von Gesundheitspromotoren aus dem ausgegrenzten Norden Guatemalas, deren Spezialität die Zahngesundheit ist. Mittlerweile ist eine zweite Brigade vor Ort gewesen und sind die ersten Haitianer ausgewählt worden, die an einem Ausbildungskurs für Gesundheit und Zahngesundheit teilnehmen werden. Die guatemaltekischen Brigaden wurden bislang mit 65.000 Euro unterstützt.