7.000 NGOs und Milliarden Dollar Hilfsgelder haben es nicht vermocht, Haiti besser wiederaufzubauen. Doch es gibt eine rege Debatte über die Ursachen. Erkundungen vor Ort.(Dieser Text erschien in einer gekürzten Fassung im medico-Rundschreiben 2/2013.)
Die Ordnung ist wieder hergestellt. Wir laufen zwar noch am Rande des Rollfeldes entlang. Doch nach wenigen Metern betreten wir eine klimatisierte Halle und fünf Musiker in leichten Shirts empfangen uns mit karibischen Klängen und bunten Broschüren. Das Magazin, das sie verteilen, preist die touristischen Seiten der Insel an. Wir sind auf den Antillen und nicht mehr in Haiti im Gebiet der größten humanitären Katastrophe seit 100 Jahren.
Ich reise zum dritten Mal nach Haiti. Die ersten beiden Male trug der Flughafen noch die Wundmale der Zerstörung. Schon beim Landeanflug sah man ein Meer und viele Tropen aus blauen Zeltstädten, die sich über die ganze Stadt verteilten. Die Eingangshalle war ein Provisorium und sein Gepäck schnappte man sich direkt am Flugzeug. Nun aber ist die Ordnung wieder hergestellt. Der Präsident hat die Wiedererrichtung des Flughafens zur obersten Priorität erklärt, genauso wie den Aufbau eines Luxushotels. Das Best Western, vier Sterne, Zielgruppe Geschäftsleute und Vertreter von Hilfsorganisationen.
„Haiti is open for business“, lautet Präsident Martellys politische Vision. Bei jeder Gelegenheit wiederholt er diesen Satz wie den Refrain eines Schlagers. Darauf versteht sich der Präsident. Er war selbst ein Sänger.
Wer sich auf seine Melodie einlässt, kann durchaus Fortschritte bewundern. Viele Zeltstädte, in denen über 600.000 der anderthalb Millionen obdachlos gewordenen Menschen seit dem Erdbeben lebten, sind verschwunden. Die Stadt hat wieder freie Plätze. Hier und da sieht man Liebespaare auf Parkbänken sitzen, wo zuvor auf kleinstem Raum Tausende Zelt an Zelt lebten. Der Schutt der Zerstörung ist zum großen Teil beseitigt. Enorme Dimensionen an Schutt sind angefallen, denn ein Drittel der Großstadt war zerstört und musste abgeräumt werden.
Das Gefühl von Fortschritt kann einen aber auch sehr schnell wieder verlassen. Denn schon wenige Meter nach dem Flughafen drängen sich die Menschen dicht an dicht in den armseligen Bussen und Taptaps. An den Straßenrändern gibt es keinen Platz, weil sich die Verkäufer mit den wenigen Habseligkeiten um die Käufer in den Autos drängen. Nun noch mehr als früher. Alternative Einnahmequellen gibt es nicht. Nach dem Erdbeben ist die Stadt noch größer geworden. Wer sich mit abgedunkelten Scheiben, verschlossenen Autotüren durch die millionenfache Armut den Berg hoch schiebt, der trifft im höher gelegenen Pétionville auch eine Welt an, die bequemes Leben bereit hält. Und das noch in karibischen Farben. Hier liegt auch das neue Hotel. Für 80 Prozent der HaitianerInnen ist diese Welt unerreichbar. Ihre Armut hat sich nach dem Erdbeben und trotz der Hilfe vergrößert.
Streit um die Hilfe in Haiti
Im vierten Jahr nach dem Erdbeben am 12. Januar 2010 ist ein riesiger Streit um die Erdbebenhilfe entbrannt. Denn die sichtbaren Fortschritte, so meinen viele, können die großen Fehler und das vielfache Versagen der internationalen Hilfe nicht überdecken. Bücher und Untersuchungen über die Hilfe in Haiti wie das des US-amerikanischen Anthropologen Mark Schuller tragen vielsagende Titel: „Killing Kindness“ (tötende Freundlichkeit). Oder das jüngste Erschienen Werk des Büroleiters der Agentur AP in Haiti Jonathan Katz: „The Big Truck That Went By: How the World Came to Save Haiti and Left Behind a Disaster“ (Der große Laster, der vorbei fuhr: Wie die Welt kam, um Haiti zu retten und eine Katastrophe hinterließ). Der haitianische Filmemacher Raoul Peck nennt seine über zwei Stunden lange Dokumentation gar: „Tödliche Hilfe“.
Was ist geschehen? Und was bedeutet es für uns als eine der vielen tausend Hilfsorganisationen, die 2010 nach Haiti kamen? Ich reise mit einem kleinen Team aus einem Kameramann und einem weiteren Kollegen, um Antworten auf diese Fragen von unseren haitianischen Partnerinnen und Partnern zu bekommen.
Ob in den Gesprächen mit der Historikerin Suzy Castor, der Schriftstellerin Yannik Lahens, dem Bauernführer Jean Baptiste Rosnel, dem Gesundheitsaktivisten Richard Bercy, dem Menschenrechtler Pierre Esperance oder der dominikanisch-haitianischen Frauenrechtlerin Marisol Hernandez - in allen Gesprächen ist das Resümee eindeutig. Das Versprechen, das Bill Clinton im Namen der internationalen Regierung gegeben hat, nämlich „Haiti besser wieder aufzubauen“, ist aus ihrer Sicht nicht erfüllt worden. Die Menschen lebten unter noch unwürdigeren Bedingungen der Armut als vor dem Erdbeben. Es gebe keine ökonomische Perspektive für die 80 Prozent Armutsbevölkerung in Haiti selbst. Auf dem Land sei die Situation nach dem Erdbeben noch schlechter als vor dem Beben. Der Migrationsdruck in die wenigen Städte sei weiter gestiegen. Eine Verstädterung, aber ohne Industrialisierung, ohne Arbeitsplätze. Haiti sei von fremder Hilfe heute, so die einhellige Meinung unserer Partner, noch abhängiger als zuvor.
Superausbeutung als Erdbebenhilfe für Haiti
Die einzige ökonomische Idee besteht in der Schaffung einer Sonderwirtschaftszone im Norden des Landes, in die die größten Investitionen der USA geflossen sind. Wenn alles so kommt, wie angekündigt sollen dort 20.000 Arbeitsplätze entstehen. Eine koreanische Textilfirma soll Billigbekleidung für die großen Handelshäuser in den USA herstellt. Sie darf die nächsten zehn Jahre die Bekleidung zollfrei einführen. Eine Erdbebenhilfe – für Haiti oder doch eher für Walmart und die koreanische Firma. 366 Bauern wurden für die Errichtung des Industrieparks enteignet. Wiederaufbau nach den Regeln der herrschenden Ordnung.
Die Sonderwirtschaftszone soll über einen eigenen Hafen verfügen, eine Anbindung an die haitianischen Zentren hat sie nicht. Exterritorialität kennt man in Haiti schon Eine der schönsten Strände der Karibik ist auch so eine Sonderwirtschaftszone. Die Touristen, die hier an Land kommen, wissen oft nicht einmal, dass sie sich in Haiti befinden. Der Strand von Labadee wurde für 90 Jahre an ein Kreuzfahrtunternehmen verpachtet, das die Stadt ungeachtet des Erdbebens einen Tag nach der Katastrophe anfuhr. Hier war die Ordnung nie gestört.
Neben der Schuttbeseitigung war und ist die Auflösung der großen Zeltstädte eine der großen humanitären Aufgaben. Die medico-Partner des nationalen Menschenrechtsnetzwerks RNDDH (Réseau National de Défense des Droits Humaines) hatten es sich von Anfang an zur Aufgabe gemacht, die Auflösung der Lager zu beobachten. Immer wieder berichten sie von Zwangsräumungen. Aber strukturelle Gewalt ist auch eine Form von Zwang. Und die Räumung von Lagern ohne eine menschenwürdige Perspektive gehört auch dazu. Viele Lager wurden durch Einmalzahlungen von ca. 300 Dollar geleert. Bei anderen hat man die Mieten für ein Jahr übernommen. Oder einfach die Lebensbedingungen in den Zeltstädten so verschärft, dass Leute weg mussten. Die Wasserversorgung eingestellt, die Klos abgeschafft.
Von den Flüchtlingslagern in die Übergangslager
Da aber, wo ein Teil der Obdachlosen des Erdbebens angesiedelt wurde, gibt es keine Arbeit. Wir fahren mit Esaie Clervil, einem Mitarbeiter unseres Partners RNDDH in die Ansiedlung. 18 Kilometer außerhalb von Port au Prince liegen die T-Shelter aufgereiht wie zum Appell in der glühenden Hitze und staubtrockenen Luft. Camp Corail wurde mit Geldern verschiedener NGOs errichtet. Sean Penn, der US-amerikanische Schauspieler hatte sich persönlich dabei filmen lassen, wie er die ZeltstadtbewohnerInnen des Golfplatzes der Oberschichtsstadt Pétionville in die Busse leitet.
Camp Corail ist ein Übergangslager, von dem die mehreren tausend BewohnerInnen vermuten, dass sie hier nie wieder rauskommen. Die Einraumhütten haben kein Klo, keine Küche, kein Wasser und keinen Garten zur Selbstversorgung. Esaie Clervil war schon öfter für RNDDH hier, weil die Menschrechtsorganisation die Räumung der Lager und den Umgang mit ihren BewohnerInnen unter menschenrechtlichen Aspekten überwacht. Für ihn verletzt die Unterbringung der Menschen in diesem Lager das Gebot der Menschenwürde. Sie seien, so Clervil, hier komplett von fremder Hilfe abhängig. Denn ohne Verdienstmöglichkeiten könne man hier weder die Schule noch das Wasser bezahlen. Ja, man habe nicht einmal Geld genug, um in das ferne Port au Prince mit dem Bus zu fahren. Nur dort aber kann man irgendwelche Einkünfte erzielen.
In Camp Corail ist es ein Leichtes kritische Stimmen zu finden. Die erste Frau, die mit ihrem sechsjährigen Jungen unter dem schattenspendenden Vorbau für die Schule lernt, beschwert sich uns gegenüber sofort. Dass sie nie hierher hätte ziehen dürfen, dass sie besser in Port au Prince geblieben wäre, dass man die gegebenen Versprechen nicht einhalte. Ich frage sie, ob sie mit Menschen ihrer ursprünglichen Nachbarschaft zusammen lebe. Nein, sagt sie, sie habe alle erst hier kennengelernt. Ihr Lamento offenbart die depressive Struktur, die Ohnmacht, die ein Leben im Dauerzustand des Irgendwie-Überlebens prägt. Die Erdbebenhilfe für Haiti hatte gute technische Ideen, was man besser machen könnte, aber keine für die Geschichte und den Kontext des Landes und wie sich das in den Biografien der Menschen widerspiegelt. Davon spricht das Leben der Menschen in Camp Corail Bände.
Rund um Corail bauen sich entlang der abgeholzten Hügel ungeplant weitere Elendsviertel auf. Dazwischen errichtet die Regierung doppelstöckige Häuschen mit bunten Fassaden. Es sei, so sagt Pierre Esperance – der Chef von RNDDH – mit ausländischer Hilfe ein riesiges Elendsviertel errichtet worden, das schnell größer sein werde als Cité Soleil.
Unweit dieser Wüstenei, in der Menschen kaum überleben können, liegt auch das Massengrab der Erdbebenopfer. Der Hügel fällt kaum auf zwischen den kahlen Bergen, die drohend am Horizont stehen. Jederzeit bereit für das nächste Unglück, beim nächsten Sturm, für den nächsten Hangabrutsch. Nur wenige Kreuze stehen auf der Spitze. Haiti ist wieder zur Tagesordnung übergegangen. Dazu gehört die Hoffnungslosigkeit der Menschen, ihrer Armut nicht entfliehen zu können.
Verdrängte Apokalypse
In allen Interviews habe ich unsere haitianischen Kolleginnen und Kollegen danach gefragt, wie sie den Tag des Erdbebens erlebten. Ich war auf ihre Antworten nicht vorbereitet. Denn jeder hatte die Apokalypse gesehen. Die Angst um das eigene Überleben wurde abgelöst von der Angst um die Angehörigen, übertönt von den Schreien der Verschütteten und überlagert von den Bildern der Toten in den Straßen, die keiner von ihnen vergessen kann. Dass so viele HaitianerInnen diese Erlebnisse und Bilder eingebrannt haben, hatte ich mir zuvor nicht klar gemacht. Ungefragt spricht keiner mehr von diesem Tag. Und wenn, dann beginnt der Bericht oft mit einem Lächeln. Das war mir schon beim ersten Mal, sechs Wochen nach dem Beben aufgefallen.
Damals konnte diese Zerstörung nur einen Sinn haben, eine Art Stunde Null des Neuanfangs. Das hatte man erwartet und erhofft. Das jetzt alle gemeinsam anpacken würden, um die elende Marginalisierung Haitis zu überwinden, damit eine solche Katastrophe sich nicht mehr wiederholen würde, war der Wille von allen.
Heute, sagt Suzy Castor, die große alte Dame der haitianischen Zivilgesellschaft, tun alle so, als hätte es das Erdbeben nicht gegeben. „Aber es ist trotzdem da. Es ist trotzdem in uns.“
Hilfe, die den Gebern hilft
Pierre Esperance ist kein radikaler Linkspolitiker. Aber die Bilanz des von ihm geleiteten Menschenrechtsnetzwerkes, mit dem medico seit zwei Jahren zusammenarbeitet, ist eine Radikalkritik an der internationalen Hilfe. Pierre weiß, wovon er spricht, weil die kritische Beobachtung, das Monitoring, die Aufgabe seines Netzwerkes ist. 80 Prozent der US-amerikanischen Gelder, sagt Pierre, seien wieder in die USA zurückgeflossen. Für Gehälter der „Expats“, die nichthaitianischen Mitarbeiter, für die Gewinne der ausländischen Firmen. Viele ausländische Helfer seien gekommen und nach einem halben Jahr wieder gegangen. Wie Soldaten im Auslandseinsatz. Kaum kannten sie sich aus, waren sie wieder weg. Zu viele Organisationen hätten ihre eigene Agenda gehabt und nicht mit lokalen Partnern zusammengearbeitet. Und die haitianische Regierung wäre komplett vom Ausland abhängig. Ja, man würde die kritischen Presseerklärungen der Menschenrechtsorganisationen zur Kenntnis nehmen. Man wäre auch immer mal eingeladen worden. Als eine Stimme unter vielen. Aber man sei an keiner Entscheidung beteiligt worden.
In Raoul Pecks Film tödliche Hilfe kann man dies mit eigenen Augen sehen. In großen Runden sitzen gut ausgebildete weiße Menschen aus allen Ländern der Welt und beratschlagen über den Wiederaufbau Haitis. Und dabei verwalten sie Millionen. Raoul Peck ist dabei, wie die haitianische Delegation, die Mitglied in der Kommission zum Wiederaufbau Haitis ist, eine Protestnote verliest. Man beteilige sie nicht an Entscheidungen und man unterrichte sie nur kurz vorher über anstehende Mittelvergabe. Es ist ein Zeugnis der Ohnmacht. Denn die Kritiker verlassen die Kommission nicht. Sie protestieren nur. Aber wie Macht und Ohnmacht verteilt sind, lässt sich an einer Zahl ablesen. 1 Prozent der zwei Milliarden Nothilfe, die es für Haiti gab, ist über die haitianische Regierung abgewickelt worden. 99 Prozent haben internationale Akteure und NGOs nationale wie internationale verwaltet. Das zeigt die Machtverhältnisse zwischen einer zumindest demokratisch legitimierte Regierung und den internationalen Gebern und Akteuren, deren Legitimation und Eigeninteressen zu hinterfragen sind.
Zu seinen eigenen Bildern kommentiert Peck, die ausländische Geber und Helfer seien aufgetreten, als hätten sie den Schlüssel zur Lösung für die haitianischen Probleme. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als hätten nur die HaitianerInnen bei der Umsetzung der Pläne gestört. Die Unfähigkeit der haitianischen Regierung ist immer wieder der wichtigste Begründungszusammenhang für das Scheitern des besseren Wiederaufbaus. Nur, diese Argumente lassen außer Acht, dass gezielt sehr mächtige Parallelstrukturen aufgebaut wurden, die weder demokratisch legitimiert noch auf Dauerhaftigkeit angelegt waren. Sie dienten dazu Projekte umzusetzen, Gelder schnell abzuwickeln, Ergebnisse für Geldgeber vorzuweisen. Ansätze einer handlungsfähigen haitianischen Selbstverwaltungsstruktur konnten so nicht entstehen. Aber genau das fehlt in Haiti, damit sich die Katastrophe nicht wiederholt.
Große alte Dame der Zivilgesellschaft
Wir sitzen in Suzy Castors üppigem Garten. Aus alten Autoreifen hergestellte Papageien in bunten Farben schwingen in den riesigen tropischen Büschen und Bäume. Haiti ist auch Platz der Recycling-Kunst. Die Papageien sind ein Exportschlager ihres Sohnes. Mit Suzys Forschungsinstitut CRESFED (Centre de recherche et de formation économique et sociale pour le développement) unternahm medico den Versuch, in Aquin, einer großen ländlichen Gemeinde, einen Entwicklungsplan mit der Bevölkerung zu erarbeiten. Die Idee bestand darin, die Bevölkerung in lokalen Versammlungen so weit einzubeziehen, dass sie gut informiert und auch fordernd gegenüber den eigenen Verwaltungsstrukturen ist. Ein guter Plan ist dabei herausgekommen. Und ein paar Maßnahmen wie die Weiterbildung der Bauern werden auch durch ausländische Geldgeber finanziert. Die Kommunalverwaltung aber hat, selbst wenn sie den Plan durchsetzen wollte, keinerlei Mittel zu seiner Realisierung. Wir hatten gemeinsam mit unseren Partnern eine gute Idee. Ihre Umsetzung könnte an der Wirklichkeit scheitern.
Auch Suzy ist sich dieser Möglichkeit bewusst. „Es gibt so viele kommunale Entwicklungspläne“, sagt sie mit einem breiten Lächeln. „Die meisten landen in der Schublade“. CRESFED arbeitet seit vielen Jahren in Aquin. Das ist eine Chance für den Entwicklungsplan. Im Gegensatz zur Clinton-Kommission in Port au Prince, die mittlerweile aufgelöst ist, bleibt CRESFED in Aquin. Man kann die NGO zur Verantwortung ziehen. Sie hat sich mit der Beteiligung der lokalen Bevölkerung selbst angreifbar gemacht und Erwartungen geweckt.
Suzy ficht das nicht an. Ein langes Leben lang, hat die Historikerin und politische Aktivistin versucht die Abhängigkeitsstrukturen durch eine Politik der sozialen Bewegungen aufzubrechen. Sie musste mit ihrem Mann, einem der bekanntesten linken Politiker Haitis, während der Duvalier-Diktatur das Land verlassen. 25 Jahre lang lebten und lehrten beide in Mexiko an der Universität. Nach dem Ende Duvaliers kehrten sie zurück, unterstützten den Befreiungstheologen Aristide und brachen nach seiner Wiederwahl 2001 mit ihm. Suzy verkörpert die haitianische Geschichte, die Hoffnungen und das Scheitern. Eine solche Lebenserfahrung und der Blick der Historikerin lehrt Geduld.
Sie hat natürlich den Film von Raoul Peck gesehen und teilt seine Kritik am Paternalismus der internationalen Hilfe. Aber die Historikerin hat auch die andere Momente nicht vergessen. „Nach dem Erdbeben haben wir eine so große Sympathie der Welt erfahren. Es war beeindruckend für uns. Sowohl die Regierungen wie die Menschen aller Länder haben uns unterstützt. Das war ein einmaliges Gefühl. Man hat uns gegenüber Zärtlichkeit und Solidarität an den Tag gelegt.“ Da sei ein Moment gewesen, in dem eine Wende für Haiti möglich erschien. Ich frage sie, warum es nicht gelungen ist, diesen Moment der Solidarität in eine Kraft zu verwandeln, die eine Änderung hätte herbeiführen können? Sie muss für ihre Antwort nicht lange überlegen. „Weil es kein gemeinsames Projekt gab, in das diese Kraft hätte kanalisiert werden können." Dann hätten die Einzelinteressen die Oberhand gewonnen.
7.000 NGOs und ihre Interessen
Diese Einzelinteressen aber sind mit großer politischer und finanzieller Macht ausgestattet. Die internationalen NGOs, zu denen auch medico zählt, verfügten über Millionen. 7.000 solcher NGOs haben sich nach dem Erdbeben an den Aufbauarbeiten beteiligt. Alle mit ihrer Agenda.
Das Bizarre an der Situation ist, dass viele internationale NGO-Vertretern in Haiti beim Beschreiben des Scheiterns, den HaitianerInnen und der haitianischen Regierung Interessen und böse Absichten der Vorteilsnahme unterstellen. Kommt aber die Rede auf die eigene Rolle, dann haben sie nichts weiter als das Gute für Haiti im Sinn. Ihre Interessen sind kein Gegenstand der Debatte. Dabei ist der Druck Gelder „abzuwickeln“ und der Beweis der eigenen Handlungsfähigkeit gegenüber Spendern, Geldgebern und der heimischen Presse eine der Hauptursachen für die weitere Entmachtung der HaitianerInnen bei der Gestaltung ihres Landes.
Wie lange die Erzählung vom Westen und seinem guten Willen noch trägt, ist allerdings nach dem haitianischen Scheitern die Frage. Filme wie der von Raoul Peck und die vielen Artikel und Bücher, die sich kritisch mit dem gescheiterten Wiederaufbau auseinandersetzen, setzen die Notwendigkeit eines Paradigma-Wechsels in der humanitären Hilfe auf die Tagesordnung. Ein besserer Wiederaufbau in Haiti war und ist keine technische Frage von guten Ideen und ihrer pragmatischen Implementierung. Dieses Hilfsverständnis ist in Haiti gründlich gescheitert. Es braucht eine Rückkehr zum politischen Verständnis von Hilfe und dem Kontext, in dem sie praktiziert wird. Die Menschen in Haiti brauchen Hilfe, Solidarität und Unterstützung. Aber ein solches Unterfangen kann nur glücken, wenn es die Geschichte und Gegenwart der Abhängigkeitsstrukturen des Landes begreift und ihre Widerspiegelung im Leben und Verhalten der Menschen. Haiti heute ist ein Land, das den meisten seiner Bewohnerinnen und Bewohner keine Menschenwürde zubilligt. Es ist ein Platz, der billige Arbeitskräfte verwahrt, und wenn sie Glück haben, sind ihre Unterkünfte wenigstens bunt angemalt. Zu einer solchen Ordnung darf solidarische Hilfe nicht beitragen.
Die Rechte der HaitianerInnen stärken
Seit 2010 unterstützt medico Partner in Haiti. Nicht alle Projekte weisen über sich selbst hinaus und manche sind auch dem beschriebenen Handlungs- und Abwicklungsdruck geschuldet. Dass besserwisserische, paternalistische Formen von Hilfe in Haiti ein zentrales Problem sind, war medico jedoch von Anfang an bewusst. Es wurden deshalb Formen des Süd-Süd-Austausches unterstützt, die bis heute eine gemeinsame Sprache mit ihren haitianischen Partnern sprechen. Da wären die Brigaden der lateinamerikanischen Bauernbewegung via campesina, die die haitianische Bauernbewegung Tet Kolé unter anderem in der Errichtung eines Schulungszentrums für ihre Mitglieder unterstützen. Sie sind nicht Mitglied des betuchten Hilfsbusiness. Sie leben mit den Bauern und kennen deren Leben aus eigener Erfahrung. Oder die haitianisch-dominikanischen Frauen, die in Léogâne ein Kinderheim und ein Schulungszentrum für die Kommune betreiben. Es ist das einzige haitianisch-dominikanische Projekt, das von der großen Solidarität des Nachbarlands nach dem Erdbeben übrig geblieben ist. Denn auch die Hoffnung, die Insel aus zwei Staaten, Haiti und der Dominikanischen Republik, werde angesichts der Erdbebenkatastrophe zusammen wachsen, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Die Dominikaner haben gegen die zwei Millionen HaitianerInnen, die dort zum Teil unter sklavenähnlichen Bedingungen auf dem Bau, in den Plantagen und im Tourismus schuften, Gesetzesverschärfungen durchgesetzt, die in der Welt ihresgleichen suchen. So dürfen die dominikanischen Behörden nach Gutdünken Dominikanern haitianischen Ursprungs die dominikanische Staatsbürgerschaft einfach wieder aberkennen. Der Verlust einstmals verliehener Bürgerrechte, der darin zum Ausdruck kommt, zeigt wie sehr die HaitianerInnen entrechtet werden können, ohne dass es größeres Aufsehen erregt.
Gemeinsam mit vielen dominikanischen Initiativen hat unsere Parnerorganisation, die dominikanisch-haitianischen Fraueninitiative MUDAH (Movimiento de Mujeres Dominico-Haitianas) dieses Gesetz in großen Kampagnen versucht zu verhindern. Sonia Pierre die legendäre Leiterin der Organisation, die schon als 15jährige die in sogenannten Bateys lebenden haitianischen Zuckerrohrarbeiter organisierte, ist in diesen aufreibenden Auseinandersetzungen an einem Herzinfarkt verstorben. Trotzdem hat die Fraueninitiative und ihr haitianischer Ableger AFDC (Association des Femmes pour le Développement communautaire) in Léogâne, dem Epizentrum des Erdbebens ihre Arbeit fortgesetzt. Ein Schulungszentrum ist errichtet, ein Kinderheim, eine kleine Poliklinik. Es ist ein Ort wie eine Insel mit Regeln der Würde und des respektvollen Umgangs miteinander. Die haitianischen und dominikanischen Mitarbeiter sind bestens mit den lokalen Strukturen vernetzt. Sie haben es sogar geschafft, dass selbst die Kommunalverwaltung nun Kurse bei ihnen besucht, wie man respektvoll mit den eigenen Bürgern umgeht. Auch der Bürgermeister weiß Bescheid. Es war für die Kolleginnen keine Frage, dass diese vorhandenen Institutionen und ihre Vertreter einbezogen werden müssen. Und so können die Frauen und Männer im ganzen Bezirk ihre Kurse anbieten, die vor allen Dingen die Rechte eines jeden Bürger und jeder Bürgerin thematisieren und damit an den haitianischen Strukturen aus Paternalismus und Gewalt rühren.
Katja Maurer