Jetzt auch das noch. Ein weiteres Erdbeben in Haiti, das das Land in einer fast aussichtlos schwereren Zeit antrifft. Dieses Mal traf das Erdbeben mit einer Stärke von 7,2 den Süden des Landes mit den Städten Jeremy, Les Cayes und Aquin. Dann folgte auch noch der Tropensturm, der in dem verletzlichen Land zu gefährlichen Hangabrutschen geführt hat.
Hinzu kommt die politische Situation, die sich kaum schlimmer ausmalen lässt. Zur Erinnerung: Präsident Jovenel Moise wurde Anfang Juli ermordet. Seine Ermordung ist noch immer nicht aufgeklärt und man muss von einer Art Staatsstreich ausgehen. Die Präsidentengarde, die ihn hätte schützen sollen, wies keine Verletzten auf. Das allein wirft mehr als Fragen auf. Ein Staatsstreich aber hieße, dass die, die jetzt die Interimsregierung stellen, möglicherweise selbst verwickelt sind. Trotzdem soll dieser Trupp am 7. November Neuwahlen organisieren. Die Neuwahlen geschehen auf Druck der internationalen Gebergemeinschaft, besonders aus den USA, um eine weitere Regierung zu installieren, die für die meisten gänzlich illegitim ist. Denn niemand in Haiti glaubt an Wahlen, noch einen Urnengang, der halbwegs sauber ist. Schon bei letzten Präsidentenschafts- und Parlamentswahlen lag die Wahlbeteiligung bei 25 Prozent. Hier kann also von Legitimität kaum mehr die Rede sein. Aber vielleicht bedarf es gar keiner Legitimität vor dem „Volk“. Denn diese Art von Regierung kann tun und lassen, was sie will, solange sie die ihr zugedachte Aufgabe erfüllt: Flüchtlinge aus Haiti zu verhindern. Es geht nicht mehr um Demokratie oder eine funktionierende, dem Gemeinwohl verpflichtete Staatlichkeit, sondern um ein Herrschaftsregime, das die Interessen der Anrainerstaaten, also hier der USA und der Dominikanischen Republik verwaltet: Arbeitskräfte dort, wo sie nötig sind zur Verfügung zu stellen, und wenn sie nicht mehr benötigt werden zu repatriieren, und natürlich einfach Menschen von der Ausreise abzuhalten. Selten zeigte sich die Welt-Lage, wie sie sich für ein Land am Rand des Universums darstellt, so ungeschönt.
Dass auf Haiti weitere Erdbeben zukommen werden, war spätestens 2010 klar. Schon dieses mit seinen humanitären Folgen katastrophale Erdbeben war von Wissenschaftler:innen als Gefahr lange vorher gesagt worden. Allerdings gab es fast zweihundert Jahre keine Erdbeben und das historische Gedächtnis über diese Art von Gefahren ist verloren gegangen. Jetzt gehen wissenschaftliche Untersuchungen davon aus, dass eine ganze Reihe von Erdbeben in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Haiti erschüttern werden. Darauf aber sind das Land und die Menschen nicht vorbereitet. Auf den Bildern aus der Erdbebenregion sieht man wie 2010 immer wieder die Bilder von in sich zusammen gefalteten Betonhäusern. Der Beton ist von schlechter Qualität, aber war bislang das sicherste Baumaterial gegen alle anderen Naturgewalten, vor allen Dingen Tropenstürmen. Diese haben sich mit dem Klimawandel sogar noch verschärft. Haiti gehört zu den fünf Ländern weltweit, die am meisten vom Klimawandel betroffen sind und zugleich am wenigsten Ressourcen verbrauchen.
Aber es fehlte dem, was man gemeinhin haitianischen Staat nennt, jede institutionelle Möglichkeit, vorbeugende Maßnahmen wie den Ausbau des Katastrophenschutzes, die Aufklärung über Verhaltensmaßregeln bei Erdbeben wie die systematische Errichtung von erdbebensicheren Gebäuden durchzuführen. Das neuerliche Erdbeben im Süden des Landes ruft traumatische Erinnerungen hervor. Das Erdbeben von 2010 kostete nicht nur etwa 300.000 Menschen das Leben, sondern zerstörte auch die institutionelle und materielle Infrastruktur in der Hauptstadt, auf die sich alles konzentrierte. Der Wiederaufbau damals geschah unter Ägide der USA und westlicher Mächte, militärisch unterstützt von dem längsten UN-Militäreinsatz, der täglich eine Million Dollar kostete. Das Ergebnis dieser humanitären Intervention ist ein noch dysfunktionalerer Staat, in dem sich jede und jeder bereichert, der Zugang zu Geldmitteln hat, die meist aus dem Ausland kommen.
Das neuerliche Erdbeben ruft nun wieder globale Hilfsreflexe auf, die mit immer der gleichen Mentalität unterlegt sind. Während man in den wenigen Bildern aus den betroffenen Gebieten sieht, wie die einheimische Bevölkerung die Menschen rettet und in großer nachbarschaftlicher Solidarität die Lage versucht unter Kontrolle zu bringen, setzt sich eine internationale Hilfsmaschinerie in Gang, die auf der Rede von der vorgeblichen Hilflosigkeit der Opfer basiert. Dieses Denken greift auf immer dieselben Vorurteile zurück: Nämlich, dass im Land nichts vorliege, das zur Rettung beitragen könne. Diese in Hilfe verpackte alte koloniale Idee, die die lokalen Kapazitäten missbraucht und zunichte macht, ist einer der Bausteine in einem Überlegenheitsdenken, das jetzt an sein Ende gekommen ist.
Unter diesen Umständen kann Hilfe nur über lokale Partnerinnen und Partner stattfinden. Sie steht vor der Herausforderung konkret in der Katastrophe zu helfen und zugleich dem Projekt verpflichtet zu sein, sich selbst überflüssig zu machen und Teil einer institutionellen und sozialen Rekonstruktion zu sein, die das Selbstbestimmungsrecht und das Allgemeinwohl Haitis zum Zentrum ihres Handelns macht. Angesichts der Ausgesetztheit von Haiti kann sich Hilfe auf das Abfedern der Katastrophe nicht beschränken. Sie aber an dem umfassenden sozialen und politischen Präventionsgedanken auszurichten, hieße sie komplett neu denken. Nach den aktuellen Ereignissen und dem Scheitern internationaler Politik und internationaler Hilfe ist das nun die Herausforderung.