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Helfen ist kein Verbrechen

28.08.2024   Lesezeit: 6 min

Warum wir einen Fonds für Bewegungsfreiheit brauchen

Von Valeria Hänsel

Wer sich auf der Flucht nicht nur um das eigene Überleben kümmert, sondern auch anderen hilft, die lebensgefährliche Reise ins Ungewisse zu überstehen, bringt sich in große Gefahr. In vielen Ländern Europas wird dies als „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ bzw. „Schleuserei“ mit langen Haftstrafen geahndet. Mit unserem neu geschaffenen „Fonds für Bewegungsfreiheit“ stehen wir denjenigen zur Seite, die für ihre Solidarität bestraft werden.

Der Straftatbestand der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ wird mancherorts höher bestraft als Mord. Angeklagt werden nicht etwa kriminelle Gewalttäter wie die Milizen der libyschen Küstenwache, die massiv vom Menschen- und Sklavenhandel profitieren und im Auftrag der EU Geflüchtete auf offener See wieder abfangen. Stattdessen trifft es oft Geflüchtete, die dafür büßen müssen, dass es keine legalen Fluchtwege nach Europa gibt. Ihr einziges Verbrechen: Auf der Suche nach einem besseren Leben unerlaubt eine Grenze überquert und dabei anderen beigestanden zu haben.

Allein in Griechenland sitzen über 2.000 Menschen aufgrund des Vorwurfs der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ hinter Gittern. Die meisten sind Geflüchtete. Studien zeigen, dass sie in Schnellverfahren von ca. 30 Minuten zu durchschnittlich 46 Jahren Haft und Geldstrafen von über 300.000 Euro verurteilt werden. Häufig verstehen die Angeklagten – auch aufgrund unzureichender Übersetzungen – bis zuletzt nicht, was ihnen eigentlich vorgeworfen wird und warum man sie verurteilt.

Auch in Italien, Spanien und England wird von beinahe jedem ankommenden Flüchtlingsboot mindestens ein Mensch festgenommen und bezichtigt, anderen bei der Einreise geholfen zu haben. In Italien geht man davon aus, dass seit 2013 ca. 3.200 Menschen aufgrund dieses Vorwurfs festgenommen wurden. Für Spanien liegt eine Studie vor, der zufolge 2022 und 2023 rund 500 Menschen aufgrund ähnlicher Vorwürfe kriminalisiert wurden, 311 von ihnen haben einen Fluchthintergrund. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Nicht anders ist es an der polnisch-belarussischen Grenze und entlang der Balkanroute: Auch hier werden immer wieder Menschen festgenommen, weil sie Fliehenden helfen. Und bereits auf dem afrikanischen Kontinent werden einzelne Menschen, die beim Grenzübertritt aufgegriffen wurden, als Sündenböcke inhaftiert – sei es in Transitstaaten wie Marokko oder im Senegal, von wo aus Menschen auf die kanarischen Inseln einreisen.

Verhaftungen gibt es auch in Deutschland. Hierzulande wird der Vorwurf der Schleuserei außerdem verwendet, um zu versuchen den Weg für Abschiebungen in Länder wie Syrien zu legitimieren. So wurde im Juli einem syrischen Staatsbürger der subsidiäre Schutz in Deutschland verweigert, weil er in Österreich der Beihilfe zur unerlaubten Einreise in die EU verurteilt wurde.

Unhaltbare Vorwürfe

Dass eine Person am Steuer eines Flüchtlingsboots saß, Wasser an Bord verteilt hat oder mit einem Satellitentelefon die Küstenwache anrief, um aus Seenot gerettet zu werden – all das kann also ausreichen, um lebenslang im Gefängnis zu landen. Die Beschuldigten müssen kein Geld dafür bekommen und keinen Zwang gegenüber anderen fliehenden Menschen ausgeübt haben, um der Beihilfe zur unerlaubten Einreise schuldig gesprochen zu werden. Oft handelt es sich bei den Inhaftierten um Geflüchtete, die anderen das Leben gerettet haben, wie die El Hiblu 3, die seit 2019 auf den Abschluss ihres Strafverfahrens in Malta warten. Die drei Jugendlichen aus Guinea und der Elfenbeinküste waren von einem Öltanker aus Seenot gerettet worden. Sie übersetzten und vermittelten zwischen der Besatzung des Tankers und den Geflüchteten und überzeugten den Kapitän, die 108 geretteten Menschen nach Malta und nicht zurück nach Libyen zu bringen. Sie bewahrten dadurch zahlreiche Menschen vor dort drohender Inhaftierung und Folter. Doch die El Hiblu 3 wurden als Piraten und Entführer diffamiert und für terroristische Handlungen angeklagt. Das Verfahren dauert an.

In Italien steht derzeit eine junge Frau aus der Demokratischen Republik Kongo vor Gericht. Ihr Expartner trachtete ihr nach dem Leben und so floh sie mit ihrer achtjährigen Tochter und der 13-jährigen Nichte im Flugzeug nach Italien. In Bologna wurde sie am Flughafen wegen gefälschter Pässe festgenommen. Nun drohen ihr 15 Jahre Haft. Der Vorwurf: Die Schleuserin ihrer Tochter und Nichte zu sein.

Häufig werden Geflüchtete auch vor Gericht gestellt, um die Straftaten der Grenzpolizei zu verschleiern. So starben im Juni 2023 mehrere hundert Menschen vor der Küste Griechenlands als Folge eines Pushback-Versuchs. Mit einem Seil hatte die griechische Küstenwache versucht, ein Boot mit fast 700 Geflüchteten in italienische Gewässer zu ziehen und brachte es dabei zum Kentern. Hunderte Menschen starben. Doch angeklagt wurden neun Überlebende der Katastrophe, die „Pylos 9“. Der Vorwurf: Schleuserei und Verursachung des Schiffsunglücks. Erst nach einem Jahr Haft wurden sie schließlich freigesprochen.

Die Beispiele zeigen, dass der europäische Kampf gegen Schleuserei systematisch die Falschen trifft – diejenigen, die selbst Schutz suchen und anderen helfen. Ihre routinierte Verurteilung lenkt davon ab, dass es die europäische Grenzpolitik ist, die Menschen auf immer unsichere Fluchtwege zwingt. Stattdessen werden die Schutzsuchenden selbst zu Sündenböcken für die verfehlte europäische Migrationspolitik gemacht. Über ihr Leben wird in Schnellverfahren weit unterhalb juristischer Mindeststandards gerichtet.

Gegen die Kriminalisierung

Das Recht auf Schutz und Asyl ist in Europa juristisch verbrieft. Doch es bleibt für viele Menschen unerreichbar, da es für sie keine legalen Einreisemöglichkeiten gibt. Sie sind somit auf Helfer:innen angewiesen, die sie dabei unterstützen, das Recht, Rechte zu haben wahrzunehmen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das gesellschaftliche Bild der Schleuser:innen abhängig ist von der historischen Konjunktur und dass oft viel Zeit vergeht, bis ihre Taten gewürdigt werden. So werden heute Schleuser:innen geehrt, die vor vielen Jahrzehnten Verfolgten des Nationalsozialismus das Leben retteten. Auch aus anderen Epochen und Kontinenten gibt es Beispiele von Schleuser:innen, die heute als Held:innen gelten. Im US-amerikanischen Kontext ist Harriet Tubman die bekannteste Fluchthelferin, die nach ihrer eigenen Flucht als Teil der Underground Railroad in den 1850er-Jahren versklavte Menschen aus dem Süden in die Nordstaaten brachte.

Den Menschen, die die EU heutzutage kriminalisiert und verfolgt, wird diese Anerkennung verwehrt. Vielleicht ändert sich das eines Tages, wenn die politischen Kontexte, aus denen sie stammen, besser verstanden werden, ihre Geschichten erzählt und ihr Mut, andere zu retten, anerkannt wird. Darauf können wir jedoch nicht warten. Wer anderen auf der Flucht beisteht und dafür bestraft wird, braucht jetzt unsere Solidarität und Unterstützung. Deshalb rufen wir den Fonds für Bewegungsfreiheit ins Leben.

Mit dem Fonds für Bewegungsfreiheit unterstützen wir Menschen, die an den Rändern Europas unrechtmäßig in Gefängnissen sitzen oder sich verteidigen müssen. Wir finanzieren Prozess- und Anwaltskosten, unterstützen im Alltag und schaffen mit öffentlichen Kampagnen Aufmerksamkeit – weil Flucht kein Verbrechen ist. Helfen Sie uns dabei!

Valeria Hänsel

Valeria Hänsel ist Migrationsforscherin und bei medico international als Referentin für Flucht und Migration in den Regionen Osteuropa, östliches Mittelmeer und Nahost tätig.


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