Pylos 9
600 Tote und neun Sündenböcke, die Schuld sein sollen
Am 7. Juni 2023 verließ das überfüllte Fischerboot Adriana die Stadt Tobruk in Libyen. An Bord befanden sich ca. 700 Menschen, die in Italien Schutz finden und ein neues Leben beginnen wollten. Zusammengepfercht und ohne ausreichend Wasser, Nahrung oder Navigationsinstrumente harrten die Menschen eine Woche auf hoher See aus. Den Reisenden war bewusst, dass sie in dem seeuntauglichen Holzboot ihr Leben riskierten, doch sie sahen keine andere Wahl: In ihren Herkunftsländern fehlte ihnen die Lebensgrundlage oder sie waren politischer Verfolgung ausgesetzt. In Libyen drohte ihnen Folter, Haft und Abschiebung. Auch die Grenzpolitik der EU, die Aufrüstung des Grenzschutzes und die Unterstützung der libyschen Behörden sowie die restriktive europäische Visa-Politik machten es den Menschen unmöglich, legal und sicher einzureisen. So waren die Schutzsuchenden gezwungen, sich in die Hände von Schleusern zu begeben, die sie in ein seeuntaugliches Boot setzten.
Sechs Tage nach Abfahrt, am 13. Juni, geriet das Boot in der Nähe der griechischen Stadt Pylos in gefährliche Schieflage. Die Menschen an Bord kontaktierten per Telefon die Organisation Watch the Med Alarmphone, die die griechische Küstenwache alarmierte. Doch die Küstenwache lief nicht aus – erst einen Tag später näherte sie sich dem Boot. Die letzten Worte, die das Alarmphone Team von den Menschen an Bord des Fischerboots empfing, waren “Hello my friend. …. The ship you send is …” – dann brach das Telefonat ab.
Was war passiert? Interviews mit Überlebenden und forensische Analysen lassen keinen Zweifel: Das Schiff der griechischen Küstenwache versuchte, das überfüllte Boot an einem Seil in Richtung italienische Gewässer zu ziehen und brachte es dabei zum Kentern. Nur 104 der ca. 700 Menschen konnten gerettet werden, die meisten von ihnen von einer Luxusjacht in der Nähe. Alle Frauen und Kinder an Bord ertranken.
Die Schuld wurde auf die Geflüchteten selbst geschoben, neun Männer aus Ägypten wurden festgenommen. Sie sollen an Bord Aufgaben wie die Verteilung von Wasser übernommen haben. Unter dem Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise (Schleuserei), Bildung einer kriminellen Vereinigung und Verursachung eines Schiffsunglücks mit Todesfolge wurden sie inhaftiert. Nur durch die Unterstützung von Anwält:innen, unter anderem von der medico-Partnerorganisation Legal Centre Lesvos, wurden die Männer nach fast einem Jahr Haft schließlich freigesprochen. Das Gericht erklärte sich für nicht zuständig über den Vorfall zu richten, da er in internationalen Gewässern stattgefunden hatte.
Was passiert mit den tatsächlichen Tätern? Am 23. September 2023 stellten 40 Überlebende, unterstützt von Anwaltsorganisationen, vor dem Marinegericht von Piräus Strafanzeige gegen die verantwortlichen Behörden. Auch der Oberste Gerichtshof wies den Staatsanwalt des Marinegerichts an, eine Untersuchung durchzuführen. Doch seitdem liegt das Verfahren auf Eis. Dass die Überlebenden jemals Gerechtigkeit erfahren werden, scheint in weiter Ferne.