Am 14. Juni 2023 sank die Adriana, ein Fischerboot mit rund 700 Menschen an Bord, vor der griechischen Hafenstadt Pylos. Das Schiff befand sich zu diesem Zeitpunkt etwa 47 Seemeilen vor der Küste und damit in internationalen Gewässern. Nur 104 Personen überlebten. Der Untergang der Adriana und der Tod von geschätzt 600 Menschen löste international Betroffenheit aus. Auch über Griechenland hinaus war die mediale Aufmerksamkeit auf Kalamata gerichtet, wo die Überlebenden und die geborgenen Leichen hingebracht worden waren.
Mit den nach und nach an die Öffentlichkeit gelangten Informationen wurde bekannt, dass sowohl Frontex als auch die griechischen Behörden bereits über 12 Stunden vor dem Kentern der Adriana von der Situation und dem Standort des Bootes gewusst hatten, jedoch weder ein allgemeiner Notruf abgesetzt noch eine Rettungsaktion eingeleitet wurden. Weiter berichteten Überlebende übereinstimmend, dass die griechische Küstenwache versucht hatte, das Boot mit einem Seil abzuschleppen – eine Praxis, von der Pushback-Überlebende immer wieder berichten und wegen der Griechenland bereits vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt worden ist.
Überlebende als Sündenböcke?
Am Folgetag, den 15. Juni 2023, wurden neun Männer aus Ägypten festgenommen, die wie alle anderen Überlebenden hatten miterleben müssen, wie Familienmitglieder und Freund:innen, ertranken, während die griechische Küstenwache tatenlos zusah. Gegen die »Pylos 9« wurden folgende Vorwürfe erhoben: (a) Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, (b) Beihilfe zur illegalen Einreise, (c) vorsätzliche Verursachung eines Schiffsbruchs mit tödlichem Ausgang und (d) illegale Einreise nach Griechenland. Die neun Festgenommenen waren in einigen zweifelhaften Zeug:innenaussagen von Überlebenden belastet worden, die von der Küstenwache zu Protokoll genommen respektive verschriftlicht worden waren und – wie die spätere Akteneinsicht zeigte – teilweise identischen Wortlaut haben. Die Befragung der Belastungszeug:innen fand kurz nach dem Moment statt, als die Geretteten in Kalamata an Land gegangen waren und während sich die Überlebenden noch in einem geschlossenen »Auffanglager« befanden . Schon aus diesen Umständen heraus ergibt sich, dass die Strafverfolgung der Pylos 9 nicht primär der juristischen Aufarbeitung der Verantwortung für den Tod von etwa 600 Menschen dienen sollte, sondern es eher darum ging, ein Narrativ um das Kentern der Adriana zu spinnen, das jede staatliche Verantwortlichkeit unbeleuchtet lässt. Dies spiegelt sich auch in der Frage, die einer der Inhaftierten einer Anwältin des Legal Centre Lesvos (LCL) bei ihrem ersten Besuch im Gefängnis gut zwei Autostunden außerhalb von Athen gestellt hatte: »Weshalb bin ich hier«?
In den Wochen nach dem 15. Juni 2023 hat sich ein Verteidigungsteam mit Anwält:innen aus verschiedenen Rechtshilfeorganisationen und selbständig tätigen Anwält:innen gebildet, an dem sich auch zwei LCL-Anwältinnen beteiligten. In regelmäßigen Sitzungen besprachen die Anwält:innen strategische Fragen und das Vorgehen sowie die Koordination mit der Unterstützungskampagne, die sich ebenfalls gebildet hatte. Die Verteidigung stellte mehrere Beweisanträge, da die Staatsanwaltschaft kaum Ermittlungen vornahm. So wurde etwa die Befragung aller Überlebenden beantragt, also auch der 95 Personen, die bislang nicht von der Küstenwache befragt worden waren. Es wurde verlangt, dass die Kommunikation zwischen dem am Ort des Kenterns anwesenden Schiff der Küstenwache, Frontex und dem griechischen Joint Rescue Coordination Centre in Piräus offengelegt wird. Die Verteidigung stellte außerdem den Antrag, allfällige Beweise aus dem Frontex-Flugzeug und dem Hubschrauber der Küstenwache, welche die Adriana am Tag vor dem Schiffbruch überflogen hatten, zu sichern. Alle diese Anträge wurden abgewiesen. Auch wurden die Mobiltelefone der Überlebenden erst sechs Wochen nach deren Beschlagnahme der Ermittlungsakte hinzugefügt und zudem wurden die Handys einzelner Angehöriger der Küstenwache erst nach 119 Tagen zur Untersuchung eingezogen.
Freispruch für die Pylos 9
Die Hauptverhandlung wurde für den 21. Mai 2024 in Kalamata angesetzt. Im Hinblick auf den Prozessauftakt hatte die Verteidigung zahlreiche beglaubigte Aussagen von Zeug:innen und Verwandten zusammengetragen, um zu belegen, dass die Angeklagten lediglich als Passagiere auf dem Boot mitgereist waren. Einige Zeug:innen, die in europäischen Ländern leben, waren selbst nach Kalamata gereist – andere hatten diese Reise nicht antreten können, weil sie die dafür notwendigen Visa nicht bekamen. Vor Gericht brachte die Verteidigung zunächst vor, dass die griechischen Gerichte gar keine Zuständigkeit für das Verfahren gegen die Pylos 9 haben, weil die Adriana in internationalen Gewässern gesunken war. Dieser Ansicht folgte das Strafgericht in Kalamata, stellte seine Unzuständigkeit für die Anklagepunkte der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie der vorsätzlichen Verursachung eines Schiffsunglücks mit tödlichem Ausgang fest und ließ die entsprechenden Vorwürfe fallen. Gleichzeitig sprach es die Pylos 9 frei von den Vorwürfen der illegalen Einreise sowie der Beihilfe zur illegalen Einreise – dieses Urteil ist mittlerweile rechtskräftig.
Auch wenn sich das LCL-Team und alle anderen Unterstützer:innen der Pylos 9 sehr über dieses Urteil gefreut haben, bleibt dennoch daran zu erinnern, dass dieses Verfahren nie hätte eröffnet werden dürfen. Für die Angeklagten stand bis zum Verhandlungstag die zentrale Frage im Raum, weshalb sie überhaupt vor Gericht stehen.
Aber als seien die 11 Monate Untersuchungshaft nicht schon genug gewesen, wurden die Pylos 9 nach dem für sie positiven Verfahrensausgang trotzdem nicht aus der Haft entlassen. Stattdessen wurden sie umgehend in Administrativhaft genommen. Erst im Laufe des Monats nach dem Freispruch bzw. der Einstellung des Verfahrens, wurde den von der Verteidigung eingelegten Widersprüchen gegen die Inhaftierung schließlich stattgegeben und die neun Männer wurden freigelassen.
Eine effektive strafrechtliche Untersuchung der Verantwortung der griechischen Küstenwache oder von Frontex hat bis heute nicht stattgefunden. In diesem Zusammenhang ist die rechtliche Aufarbeitung des Kenterns der Adriana auch für die Pylos 9 noch nicht abgeschlossen, denn diese wollen sich nun an der Strafanzeige gegen die griechischen Behörden wegen ihrer Rolle bei dem Schiffsbruch beteiligen und einen eigenen Strafantrag einreichen.
Annina Mullis engagiert sich beim Legal Centre Lesvos im Fachteam für internationale Prozessführung. Zudem ist sie selbstständige Anwältin in Bern und Teil der Demokratischen Jurist:innen Schweiz (DJS) und der European Lawyers for Democracy and Human Rights (ELDH), in deren Auftrag sie in verschiedenen Ländern Prozessbeobachtungen durchführt. Daneben studiert sie Sozialanthropologie und Gender Studies an der Universität Bern.
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