Lehren aus der Geschichte berücksichtigen - ein Programm zur Qualifizierung nicaraguanischer
Aktivisten.
Die 22jährige Kenia Roca spielt Nicaragua. Jemand anderes stellt Daniel Ortega dar, drei weitere die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem Rollenspiel geht es um die Position der einzelnen Elemente zu den anderen und ihre Verbindung miteinander. Die anderen Workshopteilnehmerinnen und -teilnehmer analysieren die Konstellation. "Die Zukunft war ein Mann, der möglichst weit weg von der Vergangenheit und der Gegenwart stehen wollte, aber er verstand nicht, dass er ein Teil von beiden und mit ihnen verbunden ist", sagt Maria, eine der Beteiligten.
Um die eigene Geschichte verstehen und verarbeiten zu können, müsse man auch die Geschichte des Landes analysieren. So sieht das Marta Cabrera, Leiterin des ökumenischen Centro Antonio Valdivieso (CAV), das dieses "psychosoziale Fortbildungsprogramm zum sozialen Wandel" in verschiedenen Regionen Nicaraguas anbietet. Zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zählen vor allem junge Frauen wie Kenia Roca, die ehrenamtlich in einer Jugendorganisation auf der Insel Ometepe arbeitet und in diesem Lehrgang dazu befähigt werden soll, Strukturen der Selbstorganisation aufzubauen und strategische Bündnisse zu entwickeln. Dadurch versucht das CAV, lokale Basisorganisationen, die den sozialen Wandel anstreben, mit ihrem politischen Konzept der Organisationsentwicklung zu unterstützen und Multiplikatoren für eine soziale Transformation auszubilden.
Workshops ohne Wirkung
Der in mehrere Workshops gegliederte einjährige Diplomlehrgang ist das Ergebnis der in über einer Dekade gesammelten Erfahrungen in psychosozialer Arbeit des CAV. 1979 gegründet, um den sandinistischen Revolutionsprozess aus christlicher Perspektive solidarisch zu begleiten, musste sich das CAV in den 90erJahren nach der Niederlage der Sandinisten inhaltlich neu orientieren und begann 1997 mit seiner psychosozialen Arbeit. Ausgangspunkt hierzu war die Beobachtung, dass die Fülle kommunaler Workshops und lokaler Entwicklungsprojekte zu Themen wie Mitbestimmung, Geschlechterfragen oder ökologischer Nachhaltigkeit in Nicaragua kaum positive Wirkung zeigte. Nach einer Vielzahl von Untersuchungen kamen sie zu dem Schluss, Nicaragua sei durch die vielen gesellschaftlichen Umbrüche, Armut und Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte ein vielfach beschädigtes Land - "un país multiduelo" (ein Land mit vielen Schmerzen).
Das CAV beschloss, einen mehrdimensionalen Ansatz zu wählen. "Wir wollten Themen auf den Tisch bringen, die niemand bearbeitete: das Subjektive, das Psychologische, das Spirituelle." Ausgehend von der Komplexität der Lebenswirklichkeiten und in Anerkennung der Vielschichtigkeit der Erfahrungen, die insbesondere durch die Revolution und ihre Niederlage geprägt sind, wird deutlich, dass eine Intervention genau diese diversen Bedürfnisse, Interessen und Erfahrungen berücksichtigen muss. Psychosoziale Arbeit, die in einem ganzheitlichen Entwicklungskonzept eingebettet ist, stellt die einzelnen Personen ins Zentrum ihres Ansatzes. Entwicklung wird vom CAV also nicht mit Wirtschaftswachstum gleichgesetzt und die Gesellschaft nicht als von den Individuen unabhängiges Subjekt betrachtet.
Über Lehrstühle und Seminare an Universitäten sowie gemeinsame Diskussionsveranstaltungen mit Dozent/ innen soll auch Einfluss auf die noch sehr in ökonomistischen Entwicklungstheorien verhaftete Hochschullandschaft genommen werden. Vor allem in den Geistesund Sozialwissenschaften sollte mehr Bereitschaft zur Reflexion und Offenheit gegenüber alternativen Entwicklungsansätzen entstehen.
Auch die institutionellen Strukturen sind im Kontext der Revolution und ihres Scheiterns zu betrachten, um das Misstrauen gegen neue Organisationen, die für sozialen Wandel einstehen, begreifen zu können. "In Nicaragua wollen viele Organisationen eine Herzoperation mit der Machete durchführen", sagt Marta Cabrera. "Sie wollen die Welt verändern, während sich innerhalb der Organisationen ein veralteter Führungsstil reproduziert, der jede Änderung unmöglich macht. Daniel Ortega und Arnoldo Alemán sind nicht die einzigen Caudillos dieses Landes, es gibt sie in den Organisationen, NGOs, in allen Sektoren unserer Gesellschaft." Es sei daher wichtig, die Konsequenzen der Revolution sowie den durch Globalisierungsprozesse beschleunigten sozialen Wandel der letzten 20 Jahre in dem von medico geförderten einjährigen Lehrgang zu berücksichtigen.
Ines Thomssen/Annika Mildner