Illuminations

Nachruf auf Pierre Bourdieu (1930 bis 2002)

01.04.2002   Lesezeit: 7 min

»Die Wissenschaft, der neue Adel! Der Fortschritt. Die Welt geht vorwärts! Warum sollte sie sich nicht im Kreise drehen?« (Jean Arthur Rimbaud)

Habitus: Zerstreut / Konzentriert

Seit Jean-Paul Sartre und Michel Foucault, dessen Sarg Bourdieu 1984 mitgetragen hatte, war die herrschende Ordnung von keinem französischen Denker mit soviel Verve herausgefordert worden. Und mit soviel Autorität. Er versucht die Beschreibung einer Gesellschaft, die sich nicht mehr zentral steuern läßt. Deren systemische Ungerechtigkeit & Unsinnigkeit zum Himmel schreit. »Das Elend der Welt«: unter diesem programmatischen Titel versammelt Bourdieu (1993) in seinem monumentalen Werk in Interviews die Leidenserfahrungen der Opfer der neoliberalen Gesellschaft. Hinter ihren Praxisbeschreibungen & Selbstschilderungen steckt für Bourdieu »Ökonomie«, nicht die des klassischen Materialismus allerdings, sondern ausdrücklich alle die jener Praxisfelder, die nicht als ökonomische Sphären anerkannt sind. Von Pierre Bourdieu ist die Anekdote überliefert, oft genug unvorbereitet zu seinen Vorlesungen erschienen zu sein. Um dann anstelle eines Vortrages seine morgendliche Post aus der Tasche zu ziehen, deren Verlesung durch ihn unmittelbar zum spannendsten soziologischen Thema wurde. Ähnlich seine unakademische Abneigung gegenüber der Teilnahme an wissenschaftlichen Kongressen. Wo er sie eben schwänzen konnte, verführte ihn seine unbändige freudige Neugierde lieber in die Vorstädte und Banlieus, wo er es fertigbrachte, die Leute herauszuklingeln und nach ihrem Habitus zu befragen. Die Fähigkeit des Entdeckens & Staunens des Surrealismus hatte er wohl noch nicht verlernt, das Umherschweifen (derivé) der Situationisten nicht minder. Wie anders dagegen das »ennui«, die ewige Langeweile der deutschen Sozialwissenschaftler!

Auf dem Weg zu seinem Grab, gleich neben Durkheim, auf dem Pariser Pére Lachaise, erzählt einer diesen lockeren Witz: »Pierre erscheint vor dem Himmelstor und trifft zu seiner Überraschung dort den Teufel als Pförtner. Der sagt: Du mußt dich nicht wundern, wir haben auch diesen Laden jetzt zusammengelegt – und das Ganze nennt sich Globalisierung.« Pierre Bourdieu wird dem Teufel anschließend mit seinen Fragen die Hölle heiß gemacht haben. Bourdieu plädierte für eine »Internationale der Intellektuellen« gegen den Neoliberalismus. Diese Internationale ist nun, wie es Friedrich Engels im Nachruf auf seinen Freund Marx schrieb: »um einen Kopf kürzer geworden«.

Hans Branscheidt

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Gegen die Politik der Entpolitisierung

Pierre Bourdieu

Hinter der scheinbaren Zwangsläufigkeit der ökonomischen Entwicklungen wenigstens der letzten beiden Jahrzehnte verbirgt sich in Wahrheit eine Politik, die freilich paradox ist – insofern es sich dabei nämlich um eine Politik der Entpolitisierung handelt. Denn ihr Ziel bestand und besteht darin, den Kräften der Ökonomie, indem sie all ihre Fesseln löst, einen sich schicksalhaft auswirkenden Einfluß zu geben: sie will nichts anderes, als die Staaten und ihre Bürger den derart entfesselten Gesetzen der Ökonomie unterwerfen. Alles das, was man unter dem zugleich deskriptiven und normativen Begriff der »Globalisierung« faßt, ist keineswegs das Ergebnis zwangsläufiger ökonomischer Entwicklungen, sondern einer ausgeklügelten und bewußt ins Werk gesetzten, ihrer verheerenden Folgen allerdings kaum bewußten Politik. Diese Politik hat liberale oder gar sozialdemokratische Regierungen einer ganzen Reihe von wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern dazu verleitet, ihren früheren Einfluß auf die Kräfte der Ökonomie völlig aufzugeben. Es ist vor allem diese Politik, die in den geheimen Sitzungen der großen internationalen Organisationen wie der WTO oder der EU, oder innerhalb all der »Netzwerke« multinationaler Unternehmen entwickelt wurde, die heute ihren Willen auf den verschiedensten Wegen den einzelnen Staaten aufzunötigen imstande scheint.

Deshalb geht es nun darum, gegen diese Politik der Entpolitisierung und Entmobilisierung die Politik, politisches Denken und Handeln wiederherzustellen, und für dieses Handeln eine geeignete Ansatzstelle zu finden, der heute jenseits der Grenzen des Nationalstaats liegen müßte, und die dazu erforderlichen Mittel, die sich nun nicht mehr auf die politischen und gewerkschaftlichen Kämpfe innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens beschränken können. Zugegeben ist ein solches Unternehmen aus verschiedensten Gründen nur sehr schwer umzusetzen: zunächst, weil die politischen Instanzen, die es zu bekämpfen gilt, nicht nur geographisch weit entfernt sind, und ihre Methoden oder Akteure kaum mehr denen jener politischen Instanzen ähneln, auf die sich die traditionellen Kämpfe gerichtet hatten. Ferner weil die Macht der Akteure und Institutionen, die heutzutage die Herrschaft über Wirtschaft und Gesellschaft ausüben, auf einer außerordentlichen Konzentration aller möglichen Arten von (wirtschaftlichem, politischem, militärischem, kulturellem, wissenschaftlichem, technologischem) Kapital beruht, Grundlage einer noch nie dagewesenen symbolischen Herrschaft, die vor allem über den Einfluß der Medien ausgeübt wird, die dabei häufig selbst und ohne ihr Wissen manipuliert werden. Dazu kommt noch, daß bestimmte Ziele eines wirkungsvollen politischen Handelns auf europäischer Ebene angesiedelt sein müssen – zumindest insoweit europäische Unternehmen und Organisationen ein bestimmendes Element der herrschenden Kräfte im globalen Maßstab geworden sind. Das heißt nichts anderes, als daß die Schaffung einer vereinigten europäischen Sozialbewegung, die unterschiedlichste, gegenwärtig noch gespaltene Bewegungen sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene vereinigen müßte, sich zu einem unabweisbaren Ziel für all jene darstellt, die den herrschenden Kräften des Marktes wirkungsvoll begegnen wollen.

Vereinigen, ohne zu vereinheitlichen

Diese sozialen Bewegungen, so unterschiedlich sie auch aufgrund ihrer jeweiligen Ursprünge, Anliegen und Ziele sind, besitzen eine ganze Reihe gemeinsamer Züge, die ihnen eine Art Familienähnlichkeit verleihen. An erster Stelle besitzen diese Bewegungen eine ausgeprägte Abneigung gegen jede Monopolisierung durch kleine Minderheiten, sie beruhen im Gegenteil auf einer eine unmittelbaren Einbindung aller Foto: Dave HartmanBeteiligten. Dies vor allem, weil sie oft aus der Ablehnung traditioneller Formen der politischen Mobilisierung, insbesondere der Parteien sowjetischen Typs hervorgegangen sind. In dieser Hinsicht stehen sie der libertären Tradition nahe, ziehen selbstverwaltete Organisationsformen vor, die, wendig und schlagkräftig, den Beteiligten die Möglichkeit eröffnen, wieder als aktive Subjekte ins Geschehen einzugreifen – gegen jene Parteien, deren Monopol auf politisches Handeln sie in Frage stellen. Ein weiterer gemeinsamer Zug besteht darin, daß sie auf greifbare und wesentliche Ziele hin ausgerichtet sind (Wohnung, Arbeit, Gesundheit usw.), umsetzbare Lösungen anbieten, und immer wieder zu gewährleisten versuchen, daß ihre Vorschläge oder auch ihre Ablehnung exemplarisch und direkt in Aktionen verbunden sind, in denen das betreffenden Problem Gestalt annimmt. Eine dritte Gemeinsamkeit: sie alle lehnen die neoliberale Politik ab, die willfährig den Zielen der multinationalen Großunternehmen zur Durchsetzung verhilft. Und ein letztes gemeinsames Merkmal ist ihre solidarische Haltung, eine Art unausgesprochener Grundsatz, der sich auf die Betroffenen (die »Artbeitslosen«, Obdachlosen) ebenso bezieht wie auf die Unterstützung anderer Bewegungen. Die Feststellung einer solchen Nähe bei Mitteln und Zielen des politischen Kampfes erfordert vielleicht nicht unbedingt eine Vereinigung der Überall und verstreut tätigen Gruppen (die zweifelsohne weder machbar noch erstrebenswert wäre), ein Schulterschluß, der gerade von den jungen Aktivisten häufig gefordert wird, weil die tatsächlichen Übereinstimmungen und Überschneidungen immer wieder deutlich werden: aber sie verlangen doch eine Koordination der Forderungen und des Vorgehens, ohne daß damit irgendwelche Vereinnahmungsabsichten verbunden wären. Diese Koordination müßte die Form eines Netzwerks annehmen, in dem sich Einzelne und Gruppen zusammenschließen könnten, ohne daß irgendwer die anderen beherrschen oder einschränken kann, und in dem der gesamte Reichtum der unterschiedlichen Erfahrungen, Sichtweisen und Ziele gewahrt bliebe. Ihm käme vor allem die Aufgabe zu, die noch zersplitterten sozialen Bewegungen aus ihrem Partikularismus, den lokalen, temporären und punktuellen Zusammenhängen zu reißen und ihnen dabei zu helfen, die Regellosigkeit, den andauernden Wechsel zwischen intensiver Mobilisierung und einer latenten, vor sich hin treibenden Existenz zu überwinden, ohne dabei jener bürokratischer Konzentration Raum zu geben, die gerade ihre besonderen Möglichkeiten zerstört. Gleichzeitig flexibel und stabil, müßte diese Organisation dann zwei verschiedene Vorhaben in Angriff nehmen: zum einen bei jeweils kurzfristig anberaumten und auf die jeweiligen Umstände bezogenen Treffen aufeinander abgestimmte und auf greifbare Ziele gerichtete Aktionen vorbereiten. Zum anderen während fester und regelmäßiger Zusammenkünfte der Vertreter aller betroffenen Gruppen allgemein bedeutsame Fragen zur Diskussion stellen und gemeinsam an langfristigen Zielsetzungen arbeiten. Es käme hier darauf an, im Überschneidungsbereich der Betätigungsfelder der einzelnen Gruppen allgemeine Ziele auszumachen und zu entwickeln, bei deren Verwirklichung alle mitwirken und dabei ihre jeweiligen Möglichkeiten und Mittel beisteuern könnten – man darf getrost hoffen, daß sich aus dieser demokratischen Begegnung einer Vielzahl von Menschen und Gruppen, die einige wesentliche Vorstellungen und Überzeugungen teilen, allmählich ein Bündel von zusammenhängenden und sinnvollen Antworten auf jene grundlegenden Fragen ergibt, für die weder die Gewerkschaften noch die Parteien weltumspannende Lösungen anbieten können.


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