Werden geopolitische Vorzeichen
umgedreht, können die Stereotypen, durch die wir uns und die anderen sehen, umso sichtbarer werden. Der aus Dschibuti stammende Autor Abdourahman A. Waberi verkehrt die Welt: die Vereinigten Staaten von Afrika, reich, mächtig, im Überfluss schwimmend, von Immigranten aus den nördlichen Randzonen belagert, Sehnsuchtsort der Menschen aus dem in ethnischen Kriegen zersplitterten Europa. „Jedes Paradies hat seine Schlange“, so der lapidare Kommentar des Erzählers.
Da sitzt er, ausgelaugt. Schweigend. Eine flackernde Kerze erleuchtet nur spärlich die Kammer des Zimmermanns im Gastarbeiterheim. Der Euramerikaner aus einer Schweizer Ethnie spricht einen deutschen Dialekt und gibt vor, im Zeitalter von Jet und Web vor Gewalt und Hunger geflohen zu sein. Er hat sich jedoch jene Aura bewahrt, sie schon unsere Krankenschwestern und Entwicklungshelfer faszinierte. Nennen wir ihn Yacouba, erstens, um seine Identität zu schützen, und zweitens, weil er einen Familiennamen hat, bei dem man sich die Zunge aushaken würde. Er wurde in einer verseuchten Favela der Region Zürich geboren, wo Kindersterblichkeit und Aids – eine Geißel, die erstmals vor bald zwei Jahrzehnten in den von Rauschgift und Laster verderbten Milieus Griechenlands auftrat und sich zu einer weltweiten Epidemie entwickelt – Rekordwerte erreichen; so jedenfalls lauten die Studien der Weltgesundheitsorganisation WHO, die ihren Sitz bekanntlich in unserer schönen und friedlichen Stadt Banjul hat. Hier sind auch immer wieder die Spitzen der internationalen Diplomatie zu Gast, um über das Schicksal von Millionen Flüchtlingen verschiedenster Ethnien zu entscheiden (Österreicher, Kanadier, Amerikaner, Norweger, Belgier, Bulgaren, Isländer, Portugiesen, Ungarn, Schweden…), ganz zu schweigen von den halb verhungerten Boat People auf dem nördlichen Mittelmeer, die verzweifelt den Mörsern und Granaten zu entkommen versuchen, die ihre dunklen Schatten über die leidgeprüften Landstriche Euramerikas werfen.
Einige schaffen es an Land, irren umher, verlieren den Mut, werfen mir nichts, dir nichts die Flinte ins Korn und warten darauf, vom Nichts dahingemäht zu werden. Diese armen Teufel sind auf der verzweifelten Suche nach Brot, Milch, Reis oder Mehl, die von afghanischen, haitianischen, laotischen oder sahelischen Wohltätigkeitsorganisationen verteilt werden. Französische, spanische, flandrische oder luxemburgische Schulkinder, heimgesucht von Kwashiorkor, Lepra, grünem Star oder Kinderlähmung, verdanken ihr Überleben allein den Nahrungsmittelüberschüssen vietnamesischer, nordkoreanischer oder äthiopischer Landwirte, und das seit Anbeginn der Welt. Jene Stämme mit ihren kriegerischen Sitten, ihren barbarischen Gebräuchen und ihrem hinterhältigen, zügellosen Gebaren hören nicht auf, die schon verbrannte Erde der Auvergne, der Toscana oder Flanderns weiter zu brandschatzen, wenn sie nicht gerade das Blut ihrer Erbfeinde, der Teutonen, Gascogner, rückständigen Iberer und der ganzen restlichen Bagage, vergießen, wegen jeder Bagatelle und jeder Lappalie, um jedes Lachen, jedes Nichts – weil man einen Besiegten als Gefangenen anerkennt oder eben nicht. Alles wartet auf einen Frieden, der nicht von dieser Welt ist.
Aber wenden wir uns wieder unserem verlausten germanischen oder alemannischen Zimmermann zu und werfen einen verstohlenen Blick in das Dunkel seiner Behausung. Arm wie Hiob in der Asche ist dieser Erdenbürger meilenwert entfernt von unserem alleralltäglichsten sahelischen Komfort. Im Aufenthaltsraum des weißhäutigen Hungerleiders thront ein vorsintflutlicher Schwarz-Weiß-Fernseher albanischer Fabrikation. Gerade geht eine geistlose Sendung zu Ende, in der ein Professor der Kenyatta School of European and American Studies und ein anerkannter Experte für Afrikanisierung die Behauptung aufstellt, die Vereinigten Staaten von Afrika könnten nicht länger das Elend der ganzen Welt aufnehmen. Man möchte sich fast von seiner schmeichelnden Stimme einlullen lassen, doch niemand, und schon gar nicht einer der Immigranten aus dem außerafrikanischen Ausland, lässt sich durch seine geschliffenen Phrasen zum Narren halten. Seine Grundidee lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Die förderierten Ordnungskräfte können sich ihrer Verantwortung nicht entziehen und müssen mit der gebotenen Menschlichkeit, aber aller Entschiedenheit, notfalls auch unter Einsatz von Zwangsmitteln alle ausländischen Staatsangehörigen abschieben: zuerst die Illegalen, dann die Halblegalen, dann die Paralegalen und so weiter und so fort.
Yacouba hat soeben sein Wohnheim verlassen. Er trägt ein Hemd in den Farben seines chronischen Schnupfens und versinkt in einem indigoblauen Boubou. Wenn er vorübergeht, drehen sich die Fußgänger nach ihm um, erstaunter als Völkerkundler, die im tiefsten Bayern auf einen primitiven Volksstamm stoßen. Es ist uns durchaus nicht entgangen, dass unsere Medien immer wieder jene unerträglichen und erniedrigenden Vorurteile aufwärmen, die seit Methusouleymans Zeiten auf den Tisch kommen: Die neuen Einwanderer mit den galoppierenden Geburtenraten verbreiten ihren jahrtausendealten Dreck, ihren mangelnden Ehrgeiz, ihre rückschrittlichen Religionen Protestantismus, Judaismus und Katholizismus, ihren althergebrachten Chauvinismus und ihre endemischen Krankheiten. Kurzum, sie schleppen hinterrücks die Dritte Welt in die Vereinigten Staaten von Afrika. Hemmungslos entziehen sich gewisse Presseorgane seit Jahrzehnten jeglicher Kontrolle und schüren die Angst vor dem, was man zugegebenermaßen vorschnell die „weiße Gefahr“ genannt hat. Mit schönster Regelmäßigkeit titelt die populäre N’Djaménaer Tageszeitung Bilad es Sudan: „Schweinehirten übers Mittelmeer!“. Aus Tripolis krakeelt El Ard: „Go Johnny, go!“ Und vom Lagos Herald dröhnt die kategorische Forderung: „White Trash, Back Home!“. Auf die Spitze aber treibt es der Messager des Sychelles, der lakonisch orakelt: „Apocalypse Now!“
Mehr denn je lockt unsere afrikanische Erde heute alle möglichen von Armut gekennzeichneten Menschen an, die ihr Elend über die Schotterpisten ihrer Irrfahrt getrieben hat. Menschen, konfrontiert mit ihrer eigenen Gemeinheit, von innen brüchig geworden, eine Nesselkrone anstelle des Gehirns. Ihr wollt einen Beweis, einen einzigen? Lasst uns das jahrhundertealte Zeugnis eines dieser armen Schlucker, vermutlich französischer Rasse, lesen, der die tausendzweihundert Kilometer, die Bamako von der Goldenen Stadt trennen, zu Fuß zurückgelegt hat: „Endlich langten wir glücklich in Timbuktu an, als die Sonne den Horizont berührte. Nun erblickte ich vor mir die Hauptstadt des Sudan, die seit so langer Zeit schon das Ziel meiner Träume war. Als wir die geheimnisvolle Stadt betraten, auf die sich alle Begehrlichkeit der darbenden Nationen Europas richtet, ergriff mich ein unaussprechliches Gefühl der Befriedigung; nie hatte ich Ähnliches empfunden und meine Freude war übergroß“. (René Caillié, 1828)
(Aus: Abdourahman A. Waberi, In den Vereinigten Staaten von Afrika, Edition Nautilus, Hamburg 2007)