Im fünftgrößten Land der Welt regiert ein rechtsextremer Populist. Doch in der Coronakrise stößt das politische Repertoire des Präsidenten an seine Grenzen. Bolsonaro ist isoliert wie nie zuvor – doch seine Basis ist ihm weiterhin ergeben. Karin Urschel und Mario Neumann sprachen mit den Journalistinnen Raquel Torres und Maíra Mathias von Outra Saúde, einem von medico unterstützten alternativen Medienprojekt der brasilianischen Gesundheitsbewegung.
medico: "Der Brasilianer kann in Abwasser baden und fängt sich keine Krankheit ein“. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro sorgt mit seiner Corona-Politik weltweit für Schlagzeilen. Was ist in den letzten Wochen in Brasilien passiert und welche Maßnahmen hat die Regierung ergriffen?
Raquel Torres und Maíra Mathias:Seit Beginn der Pandemie verstärkt Bolsonaro seinen politischen Stil – der immer wieder Konflikte provozieren soll – und fährt fort, die von ihm als "Grippe" bezeichnete Krankheit zu leugnen sowie die international empfohlenen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung als "hysterisch" zu bezeichnen. Bolsonaro stützt sich dabei auf die irrationalsten Mitglieder seiner Regierung – eine Gruppe, die als "Hass-Kabinett" bekannt ist – um seine Anhänger*innen gegen das Gesundheitsministerium, Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft, Gouverneure, Bürgermeister*innen, Parlamentarier*innen und die Medien aufzustacheln.
Derweil verbreitet sich das Virus in Brasilien. Wie ist die Situation?
Wie in anderen Ländern auch gibt es einen Mangel an Kapazitäten, um alle Patient*innen mit Symptomen zu testen, so dass das Gesundheitsministerium beschlossen hat, die Prüfung von Arbeiter*innen in Gesundheitsberufen und von Patient*innen mit schwerem Krankheitsverlauf und zu priorisieren. Aber das ist nicht das einzige Problem im Zusammenhang mit den Tests: Den brasilianischen Labors fehlt es auch an den Kapazitäten, bereits gemachte Tests zu analysieren. Allein in São Paulo, dem Epizentrum des Coronavirus in Brasilien, hängt das öffentliche Gesundheitssystem von einem einzigen Labor ab, dessen Kapazität bei tausend Proben pro Tag liegt, doch bereits zu Beginn des Monats standen über 14.000 Proben an.
In den letzten Tagen hat das Gesundheitsministerium den Kauf von mehr als 20 Millionen Diagnose-Kits sowie die Erweiterung der Analysekapazitäten angekündigt. Sollte dies geschehen, können wir in den kommenden Wochen mit einer Explosion der bekannten Covid-19-Fälle rechnen. Es wird jedoch schwierig sein, in den neuen Zahlen zu unterscheiden, welche sich tatsächlich auf neue Fälle beziehen und welche auf die Untersuchung alter Patienten zurückzuführen sind.
Wie wird es mit dem Virus in Brasilien weitergehen?
Es ist sehr schwierig, Prognosen für die kommenden Wochen und Monate abzugeben, da ja selbst das aktuelle Szenario nicht klar ist. Es gibt mehrere Prognosen von nationalen und internationalen Forschungsgruppen, die auf den Statistiken anderer Länder basieren. Sie erwarten bis zum 20. April rund 40.000 bestätigte Fälle im Land. Diese Schätzung berücksichtigt auch, dass Brasilien die von mehreren Landesregierungen ergriffenen Isolierungsmaßnahmen beibehält – oder auf die nationale Ebene ausweitet. Seit Mitte März haben die Bundesstaaten in weiten Teilen des Landes Maßnahmen zur physischen Distanzierung ergriffen. Wenn solche Maßnahmen nicht fortgesetzt werden, warnen die Autor*innen, könnte sich das Land auf das Szenario heute der Vereinigten Staaten zubewegen.
All das ist mittlerweile klar – und trotzdem hat Bolsonaro nichts unternommen?
Es ist einiges passiert, aber nicht auf Bolsonaros Initiative hin. Ein Wendepunkt in der Krise war Bolsonaros Reise in die Vereinigten Staaten, von der 25 Mitglieder der Präsidialdelegation infiziert zurückkehrten – unter ihnen zwei Minister. Eine Welle des Misstrauens traf daraufhin den Präsidenten, der sich weigerte, die Ergebnisse seiner Tests zu veröffentlichen. Da er mit mehreren Infizierten in Kontakt gekommen war, lautete die Anweisung des Gesundheitsministeriums, ihn in Quarantäne zu halten. Bolsonaro gehorchte nicht.
Seit Februar hatten der Präsident und sein Hasskabinett zu Demonstrationen gegen den Kongress und den Obersten Gerichtshof angeregt, die für den 15. März geplant waren. Bolsonaro nahm an der Demonstration teil, begrüßte seine Anhänger*innen und ließ sich umarmen. Zusammen mit dem Hasskabinett bereitete er außerdem eine Radio- und Fernseherklärung vor, die selbst diejenigen schockierte, die sich bereits an den neuen Ton in der brasilianischen Politik gewöhnt hatten. "Wir müssen zur Normalität zurückkehren", rief er inmitten des Ausbruchs der Pandemie.
Dagegen gab es dann erheblichen Widerstand.
Bolsonaros Rede und sein Auftritt auf der Demonstration am 15. März lösten eine Volksbewegung gegen den Präsidenten aus. In vielen brasilianischen Städten begann die Bevölkerung zu protestieren, indem sie auf Töpfe schlug, Pfeifen blies, Parolen gegen die Regierung rief und Bilder auf Gebäude projizierte, die Bolsonaro lächerlich machten. Diese Proteste sind die beste Nachricht in der brasilianischen Politik seit langem, denn die Protagonist*innen waren häufig Menschen, die in wohlhabenden Vierteln leben, wo Bolsonaro die Wahlen von 2018 mit großem Vorsprung gewann.
Aktuelle Umfragen bestätigen andererseits, dass eine fanatische Unterstützungsbasis immer noch fest an Bolsonaro gebunden ist – zwischen 30 und 35 Prozent der Wähler*innen. Diejenigen, die in Autokonvois gegen die Gouverneure und ihre Quarantänebestimmungen auf die Straße gingen.
Was hieße es, wenn das Nicht-Handeln von Bolsonaro tatsächlich zu Ende gedacht würde?
Das Imperial College of London hat Ende März ein statistisches Modell für mehrere Szenarien von Covid-19 in Brasilien veröffentlicht. Im Szenario ohne Eindämmungsmaßnahmen könnte es fast 190 Millionen Infizierte und 1,1 Millionen Tote geben. Im optimistischen Szenario, mit frühzeitigen Gegenmaßnahmen – umgesetzt in der Phase, in der es 0,2 Todesfälle pro 100.000 Einwohner pro Woche gibt – würde es 11,4 Millionen Infektionen und 44.000 Todesfälle geben.
Bei der Projektion der Zahlen aus anderen Ländern auf Brasilien muss jedoch berücksichtigt werden, dass es sich dabei um sehr unterschiedliche soziale Realitäten handelt. Hier gibt es große Slumgebiete mit hoher Bevölkerungsdichte, schrecklichen Wohnverhältnissen und einem Mangel an Wasser und grundlegenden sanitären Einrichtungen, die die Ausbreitung von Infektionen beschleunigen.
Wie steht das brasilianische Gesundheitssystem allgemein da?
Gleich nach Bestätigung des ersten Falls von Covid-19 in Brasilien Ende Februar sagte Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta: "Es ist gut, dass wir das SUS haben", das steuerfinanzierte und für alle gültige einheitliche Gesundheitssystem. Eine solide Gesundheitsüberwachung kann Verdachtsfälle überwachen und in öffentlichen Labors bestätigen, eine umfassende Primärversorgung kann Patienten ab den ersten Symptomen identifizieren und überweisen, eine universelle und kostenlose Versorgung auf allen Versorgungsebenen kann eine angemessene Versorgung der gesamten Bevölkerung gewährleisten.
Das klingt doch erstmal ganz gut?
Theoretisch schon. Aber die finanzielle Ausstattung des SUS reicht bei Weitem nicht aus. Die in der Verfassung von 1988 festgeschriebene Finanzierung, die den Aufbau und den Betrieb des Gesundheitssystems garantieren sollte, wurde nie eingehalten. In den letzten Jahren gab es wiederholt Gesetzesänderungen, die zu weiteren Kürzungen der Mittel für öffentliche Gesundheit geführt haben. Die letzte – und dramatischste – war eine Verfassungsänderung, die das Einfrieren der öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen und anderer sozialer Bereiche für einen Zeitraum von 20 Jahren festlegt. Das endet erst 2036.
Um die Pandemie zu bekämpfen, forderte das Gesundheitsministerium von der Bundesregierung insgesamt 4,8 Milliarden R$ (863 Mio. Euro) an. Der Nationale Gesundheitsrat – eine Instanz der sozialen Kontrolle des SUS, die aus Manager*innen, Angestellten und Nutzer*innen des Systems besteht – schätzt, dass tatsächlich 42,5 Milliarden R$ (7,6 Mrd. Euro) benötigt würden.
Wie wirkt sich das auf die Situation von Gesundheitsarbeiter*innen aus?
Die Situation ist sehr beunruhigend, vor allem im Hinblick auf das Risiko von Ansteckungen. Derzeit hat das Gesundheitsministerium keine Schutzausrüstung mehr und es gibt große Schwierigkeiten bei der Einfuhr. Bislang wurden zwar 40 Millionen Schutzmasken und Handschuhe an Bundesländer und Gemeinden verteilt. Aber zahlreiche Fachleute haben den Mangel an Ausrüstung angeprangert. Hunderte von Fachkräften des Gesundheitswesens wurden bereits wegen des Verdachts auf eine Infektion mit dem Coronavirus von der Arbeit abgezogen. Nun untersucht die Bundesregierung, ob sie Fachleute aus anderen Gesundheitsbereichen wie Psychologie, Ernährung und Veterinärmedizin für die Eindämmung von Covid-19 gewinnen kann.
Was heißt das für die Krankenhäuser? Sind sie vorbereitet?
Das Ministerium selbst hat bereits in einem am 3. April veröffentlichten Sonderbulletin eingeräumt, dass das Land nicht über genügend Krankenhausbetten, nicht über die angemessene Menge individueller Schutzausrüstung, nicht über genügend Fachpersonal, nicht genug Beatmungsgeräte und nicht über genügend Tests oder Reagenzien zur Diagnose verfügt.
Es wird oft gesagt, Covid-19 sei ein „demokratisches Virus“, das alle gleichermaßen beträfe. Könnt ihr das bestätigen?
Die Folgen der Erkrankung betreffen jedenfalls nicht alle gleich. Der Zugang zu Gesundheitsdiensten für die Armen ist begrenzt. Betrachtet man speziell die Intensivbetten, so verfügt das öffentliche Gesundheitswesen über ein Bett pro 10.000 Einwohner*innen, im privaten Sektor sind es viermal so viele. Aber nur 25 Prozent der Bevölkerung haben eine private Krankenversicherung, der Rest ist vom öffentlichen System abhängig. Die soziale Situation und die Armut haben einen großen Einfluss darauf, wie sich das Virus ausbreitet und wer daran stirbt.
Ein emblematischer Fall ist der des Covid-19-Opfers in Brasilien: Obwohl das Virus zuerst die brasilianische Elite erreichte – mit bestätigten Fällen bei Personen, die sich auf Reisen in Europa und den Vereinigten Staaten mit dem Virus infizierten – war die erste Tote eine Hausangestellte. Sie arbeitete im Haus einer Frau, die mit Symptomen der Krankheit aus Italien zurückgekehrt war.
Was bedeutet das für die Situation in den Favelas, den brasilianischen Slums, wo der Staat kaum präsent ist?
In mehreren Gemeinden organisieren sich Einwohner*innen-Kollektive, um Sensibilisierungskampagnen über Lautsprecher und Botschaften in WhatsApp-Gruppen durchzuführen. Tatsächlich gibt es sogar Berichte, dass sowohl Drogenhändler als auch Milizen in einigen Gemeinden Ausgangssperren verhängt haben. Die strukturellen Probleme bestehen jedoch nach wie vor. Es ist kein Wunder, dass andere Atemwegserkrankungen wie Tuberkulose in den Favelas fruchtbares Terrain finden. Am wichtigsten erscheint uns jedoch die Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit, Präventionsmaßnahmen und soziale Distanzierung an Orten umzusetzen, an denen es nicht einmal fließendes Wasser zum Händewaschen gibt. Selbst für Menschen mit Symptomen ist die Einhaltung der Empfehlung, in Quarantäne zu bleiben, oft keine Option, da es dafür keine hinreichenden Bedingungen gibt.
Wie viele Menschen sind davon betroffen?
Etwa 11 Millionen Menschen leben in Brasiliens Favelas, viele in kleinen Häusern, die große Familien beherbergen. Die meisten von ihnen sind informelle Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich entscheiden müssen, ob sie hungrig zu Hause bleiben oder zur Arbeit gehen und Geld verdienen. Selbst für Arbeitnehmer*innen mit Arbeitsvertrag ist die Perspektive, die die Bundesregierung bietet, nicht die beste: Eine Übergangsmaßnahme ermöglicht die Aussetzung von Arbeitsverträgen oder die Kürzung der Löhne während der Pandemie, was dazu führen kann, dass sie sich nach anderen Arbeitsplätzen umsehen müssen.
Welche sozialen Folgen hat Corona jetzt schon für diese Menschen und welche Gegenmaßnahmen gibt es? Kürzlich hat das Parlament ja ein Sozialpaket für die Armen verabschiedet.
Die sozialen Folgen der Epidemie sind schon jetzt katastrophal. Die verschiedenen Maßnahmen zur Eindämmung von Corona führen zu einem Rückgang des Einkommens von Millionen Familien und stürzen einen bedeutenden Teil der Bevölkerung wieder in Armut, ja sogar ins Elend. Die bisher wichtigste Maßnahme, um ein völliges soziales Chaos zu verhindern, ist das von dir angesprochene Notfall-Grundeinkommen von 600 R$ (108 Euro). Ursprünglich hatte die Bolsonaro-Regierung 200 R$, etwa 36 Euro, vorgeschlagen. Insofern ist die Höhe durchaus ein Teilsieg. Aber es ist nicht klar, wie dieses Geld schnell zu denjenigen gelangen soll, die es dringend brauchen. Außerdem hat das Grundeinkommen einen sehr kurzen dreimonatigen Horizont und nichts deutet darauf hin, dass die Folgen der durch die Pandemie verursachten Wirtschaftskrise dann enden. Wenn sich die Frist dem Ende zuneigt, muss Druck auf die Parlamentarier*innen ausgeübt werden, damit sie die Maßnahmen erneut – und immer wieder – verlängern.
Mit welchen Szenarien rechnet ihr in den ländlichen Gebieten?
Hier ist der Zugang zu Gesundheitsdiensten, vor allem zu Krankenhäusern, noch eingeschränkter. Brasilien hat mehr als fünftausend Landkreise, aber fast ein Viertel der Bevölkerung konzentriert sich auf die 27 Hauptstädte der Bundesstaaten. Kleine Städte verfügen im Allgemeinen nicht über Krankenhäuser und sind auf Krankentransporte in größere Kommunen angewiesen, damit schwerkranke Patient*innen angemessen versorgt werden können. In einem Szenario mit geringem Budget und überfüllten Krankenhäusern wird es sehr schwierig sein, ihre Versorgung zu gewährleisten.
Das trifft besonders die indigenen Gebiete hart, oder?
Die Verbreitung in den indigenen Gebieten ist ein großes Problem. Letzte Woche ist der erste Fall von Covid-19 in einem Dorf bestätigt worden. In diesen Dörfern sind die Infektionsraten bestimmter Krankheiten und gesundheitliche Probleme wie Unterernährung und Malaria bereits höher als die der übrigen Bevölkerung. Und, historisch gesehen, war die Sterblichkeitsrate während Epidemien in den indigenen Dörfern immer hoch. Regierungsbehörden haben Dokumente mit Richtlinien und Maßnahmen zur Verstärkung der Isolation in diesen Gebieten herausgegeben, aber die indigenen Führer glauben, dass die Reaktion nur langsam erfolgen wird.
Wie macht Bolsonaro jetzt weiter? Nach den Protesten und nachdem die Landesregierungen weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung des Virus beschlossen haben?
Am 26. März startete die Regierung eine Kampagne mit dem Slogan: "Brasilien darf nicht stoppen." Ein Kampagnenvideo zeigt Bilder des verwundbarsten Teils der Bevölkerung, also der 38 Millionen, die auf dem informellen Arbeitsmarkt tätig sind und daher während der sozialen Isolierung kein garantiertes Einkommen haben. Die Regierung versucht so, eine Revolte gegen die Erlasse der Landesregierungen anzuzetteln. Am selben 26. März unterzeichnete Bolsonaro ein Dekret, das religiöse Aktivitäten in die Liste der "wesentlichen Dienste" zur Bekämpfung der Epidemie aufnahm. Ja, ihr habt richtig gehört! Die Evangelikalen sind ein wichtiger Teil seiner Unterstützungsbasis und das Dekret war direkt auf den Druck einiger religiöser Führer zurückzuführen. Am 5. April erklärte ein Pastor bei Bolsonaro, dass mit Gottes Segen niemand mehr an Covid-19 in Brasilien sterben würde.
Steckt dahinter eine Strategie oder ist das Dummheit?
Bolsonaro will es so aussehen lassen, als hätte er nichts mit der Krise zu tun. Er versucht bereits jetzt, die sozialen Folgen der Krise seinen Gegnern anzulasten.
Wie ist diese Politik einzuordnen, auch im Vergleich zu anderen Staaten? Glaubt ihr, dass er der Präsident in Lateinamerika ist, der am rücksichtslosesten gegen das Volk vorgeht?
Wenn man über die politische Instrumentalisierung der Pandemie durch Machthaber nachdenkt, gibt es durchaus noch einen schlimmeren Fall in Lateinamerika. In Nicaragua haben Präsident Daniel Ortega und seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo die Maßnahmen der sozialen Distanzierung nicht nur in Reden kritisiert, sondern eine Reihe entgegengesetzte Maßnahmen ergriffen. Nachdem die katholische Kirche Oster-Feierlichkeiten abgesagt hatte, rief Murillo zu einer eigenen Prozession auf. Zwei weitere von der Regierung ausgerufene politische Versammlungen haben tausende Menschen mobilisiert. Bei einer von ihnen, die den absurden Namen "Liebe in der Zeit des Covid-19" trug, war die Teilnahme von Staatsbeamten obligatorisch. Darüber hinaus hat die Regierung die Öffnung von Parks und öffentlichen Schwimmbädern angekündigt und weitere kulturelle Aktivitäten bekannt gegeben, wobei sie stets Massenversammlungen fördert. Schließlich hat Nicaragua in anderen Ländern abgelehnte Kreuzfahrtschiffe in seine Häfen einfahren lassen. Wenn die Boote ankommen, können die Tourist*innen von Bord gehen und werden von den Kindern mit Blumen begrüßt. Aus all diesen Gründen scheint uns die Situation in Nicaragua die Schlimmste in der Region zu sein.
Und in Südamerika?
Verglichen mit den Regierenden in Südamerika ist Bolsonaros Politik bei weitem die Schlimmste. Alle Präsidenten der Region befürworten Maßnahmen der sozialen Distanzierung und, was am wichtigsten ist, nehmen Covid-19 ernst. Kein Wunder, dass Bolsonaro nicht an der ersten Videokonferenz mit südamerikanischen Präsidenten zur Behandlung des neuen Coronavirus teilnahm: Er hält zwar keine Quarantäne ein, aber er isoliert sich politisch – selbst innerhalb seiner eigenen Regierung.
Auch zahlreiche Gouverneure kritisierten Bolsonaro scharf. Wird Bolsonaro über Corona stolpern oder sogar fallen?
Er ist bereits gestolpert. Bolsonaro ist so daran gewöhnt, die Realität zu manipulieren, um Konflikte und Polarisierung zu schaffen, dass er die zerstörerische Kraft des Krankheitserregers unterschätzt hat. Das Virus hat die Macht, Bolsonaros Erzählung in wenigen Wochen zu dekonstruieren. Die Gouverneure haben während der Krise, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, eine Wiederbelebung ihrer Handlungsfähigkeit erlebt. Der kontinuierliche Versuch Bolsonaros‘, diesen Politikern die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise anzulasten, hat ihn noch mehr isoliert. Heute unterstützen ihn von 27 Gouverneuren vielleicht noch drei. Die Gouverneure haben eine relevante Macht über den Senat, wo Bolsonaro vor der Pandemie keine großen Gegner*innen hatte. Ehemalige historische Verbündete haben bereits mit Bolsonaro gebrochen.
Welche Rolle spielt das Militär? Es gab Berichte über einen Putsch, die später dementiert wurden.
Die Rolle des Militärs in dieser Krise ist noch nicht klar. Bolsonaro hat vor kurzem den ehemaligen Chef der Streitkräfte um Unterstützung gebeten. Und am 31. März, dem Jahrestag des Putsches in Brasilien 1964, organisierten rechte Kräfte Demonstrationen vor der Kaserne. Bolsonaro unterstütze das über WhatsApp, wie die Presse enthüllte. Aber es ist unklar, auf welche Seite sich das Militär stellen wird, wenn der Präsident noch radikaler wird. Aber sie haben mindestens eine Alternative, denn der Vizepräsident ist ein General: Hamilton Mourão hat sich zu Wort gemeldet und die Maßnahmen der sozialen Distanzierung verteidigt. Den Putsch von 1964 bezeichnet er als "demokratische Revolution".
Eine Frage zum Schluss: Was sind eure wichtigsten Forderungen angesichts dieser Situation? Was muss jetzt passieren?
Die Situation in Brasilien wäre schon sehr kompliziert, wenn wir einen Präsidenten hätten, der die Pandemie ernst nähme. Die historischen Probleme bei der Finanzierung der SUS, ihre strukturellen Schwächen und die schlechten Wohn- und Gesundheitsbedingungen, denen ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ausgesetzt sind, sind einige der Faktoren, die die Reaktion jeder Regierung zum jetzigen Zeitpunkt behindern würden. Aber eine Figur wie Bolsonaro an der Spitze des Staates zu haben, die den Ernst der Lage herunterspielt, sich gegen wissenschaftliche Studien wendet und zu Massendemonstrationen gegen die soziale Distanzierung aufruft, ist sicherlich ein Faktor, der die Dinge noch schlimmer macht. Eine Grundvoraussetzung wäre, dass der Präsident sich an den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation und des Gesundheitsministeriums orientiert.
Darüber hinaus muss die Bundesregierung so lange wie nötig Maßnahmen der sozialen Distanzierung in den Bundesstaaten einführen oder unterstützen, damit die Infektionskurve in Brasilien abflacht und das Defizit an Krankenhausbetten und -ausrüstung möglichst wenige Brasilianer*innen betrifft. Es ist auch wichtig, dass die Bundesregierung die Bevölkerung finanziell unterstützt, damit die soziale Distanzierung tatsächlich eine realistische Option ist. Und es ist sehr wichtig, dass die geringe Hilfe, die der Nationalkongress genehmigt hat, sofort in die Taschen der gefährdeten Menschen gelangt.
Darüber hinaus fordern wir eine größere Transparenz bei der Offenlegung nicht nur von Daten, sondern auch von Schätzungen der Regierung. Wir wissen, dass Anfragen aus der Presse, die über das Gesetz über den Zugang zu Informationen gestellt wurden, ignoriert wurden und sogar ein Teil der zwischen dem 12. Dezember und dem 27. Februar veröffentlichten institutionellen Berichte von der Webseite des Gesundheitsministeriums verschwunden ist. Und schließlich fordern wir, dass der brasilianische Staat in der Pandemie das Vorrecht des Privateigentums über die Produktionsmittel zum Zwecke der Produktion wichtiger Güter aussetzt, wie es Portugal und sogar die USA bereits getan haben.
Aber wir hoffen vor allen Dingen, dass diese einzigartige Krise den Funken des Kampfes für das Recht auf Gesundheit in der brasilianischen Gesellschaft – und auch weltweit – wieder entfachen wird.
Das alternative Medienprojekt Outra Saúde (Andere Gesundheit) entstand Anfang 2018, zur Zeit der Regierung von Michel Temer, die eine Reihe von Angriffen auf soziale Rechte, insbesondere auf das Recht auf Gesundheit vollzog. In den letzten zwei Jahren hat sich Outra Saúde als Stimme der kritischen Gesundheitspolitik etabliert, sowohl durch die Produktion eigener Inhalte als auch durch die Diskussion anderer Veröffentlichungen. Outra Saúde veröffentlicht den ersten und einzigen Newsletter, der sich ausschließlich der Gesundheit in Brasilien widmet.
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