In search for a new living.

Arbeit am Leben. Das neue Weltethos des Gesunden Sterbens

01.11.2002   Lesezeit: 7 min

Negative Gedanken schwächen das Immunsystem. Das muß nicht sein. Seit ein paar Jahren macht die »Anti Aging«-Industrie das kollektive Bewußtsein mit dem Gedanken vertraut, daß es sich lohnt, glücklich, reich, klug, schön und lustvoll seine Existenz zu bestreiten. Nur wer positiv lebt, lebt auch länger. Im Unterschied zur Unsterblichkeit des Himmels ist die der Erde denen verheißen, die schon hienieden auf der Sonnenseite Platz gefunden haben. Die beste Hormonstimulanz ist »eine Lebensführung, die Spaß macht, regelmäßig Schlaf, Bewegung – und das Bewußtsein von Glück«. Die Marke »Anti Aging« umfaßt Ratschläge, die so unterschiedliche Gebiete wie Ernährung, Hormone, Ausdauersport und Dermatologie betreffen. Was sie verbindet, ist nicht eine eigene medizinische Methode und auch keine spezifische biologische Entdeckung; neben Empfehlungen, die auf eine eher naturheilkundliche Ergänzung der konventionellen Medizin hinauslaufen, finden sich auch Eingriffe, die die Natur korrigieren wollen, von Medikamenten bis zu Schönheitsoperationen. Was dies alles zusammenhält, ist die Verheißung, so lang wie möglich jung zu bleiben, um schließlich, wenn es sich denn gar nicht mehr vermeiden läßt, gesund zu sterben. Diesem Zweck dienen Vitamin- und Hormonpräparate und eine sprunghaft anwachsende Flut von Büchern, Zeitschriften, Seminaren und Instituten. Der Klassiker »Forever Young« befindet sich seit 89 Wochen auf der Bestsellerliste des »Focus«. Die Zusammenstellung der nicht immer taufrischen Heilungslehren könnte auf den ersten Blick harmlos wirken. Doch im Horizont der Verjüngungsmethoden, mit denen demnächst vermutlich die Genforschung aufwarten wird, erscheint »Anti Aging« wie das Propädeutikum zu einem neuen Zeitalter: wie die Heranführung an ein ethisches System, das die bisherigen Vorstellungen vom guten Leben langsam, aber sicher umwälzen, an die veränderten technischen Möglichkeiten und die Erwartungen der einschlägigen Industrie anpassen wird. Im Zentrum steht eine Emanzipationsidee. Der Mensch soll Leiden, Krankheit und Tod nicht länger überpersönlichen Mächten wie Gott, dem Schicksal oder der »Natur« überlassen, sondern entschlossen in die eigene Verantwortung nehmen. »Durch gezielte Maßnahmen können sich Frauen und Männer die Uhr um ein paar Jahre zurückdrehen«, heißt es in einem Ratgeber. Präziser denn je sind im vergangenen Jahrhundert verschiedene Faktoren des körperlichen Verschleißprozesses herauspräpariert worden, sei es das Nachlassen der Hormonproduktion, die vermehrte Entstehung aggressiv wirkender »freier Radikale« oder die stückweise Verkürzung der »Telomere« im Zellkern. So konnte die Hoffnung aufkommen, mit einer gründlichen Behandlung jedes einzelnen Faktors lasse sich der Prozeß als Ganzer umkehren.

Lachen Sie mehr!

Man sollte sich nicht täuschen lassen vom optimistischen Gesichtsausdruck und von der geradezu unheimlichen Gegenwärtigkeit der durchtrainierten Körper, die zum Markenzeichen der neuen Moral geworden sind. Was die Anti-Aging-Bewegung von der schon länger existierenden Wellness-Welle unterscheidet, ist der dauernde Bezug zum Tod. Am Anfang steht eine radikale Individualisierung der Endlichkeit: Die Endverbraucher werden dazu aufgefordert, ihre persönliche Lebenserwartung aufgrund der bekannten Risikofaktoren und deren statistischer Auswertung so zu kalkulieren, wie das auch die Lebensversicherungen tun. Wer etwa in einer Millionenstadt wohnt, muß mit einer Kürzung seiner Lebenserwartung um 2 Jahre rechnen. Zwanzig Zigaretten am Tag, und man stirbt sechs Jahre früher. Wem ursprünglich 74 Jahre bestimmt waren, kann jetzt mit einem Tod im Alter von 66 rechnen. Als Verheiratetem wird ihm allerdings noch eine Frist von 5 weiteren Jahren zugestanden (»Eine Ehe wirkt sich stabilisierend auf die Psyche aus und fördert eine positive Lebenseinstellung«). Für eine gewisse Bildung gibt es noch ein Jahr dazu, fürs Abitur noch eins, für ein Studium gleich zwei. Aber, aber: Die Büroarbeit kostet drei Jahre, die überhöhte Geschwindigkeit im Verkehr (einmal geblitzt im vergangenen Jahr) noch mal eines. Die Frage ist: Nimmt man das Leben dennoch leicht? Ist man glücklich? Dann darf man mit 4 zusätzlichen Jahren rechnen. Wer sich einmal auf den Anti-Aging-Blick eingelassen hat, dem ordnet sich das Leben neu. Manche Ratgeber bringen die möglichen Wechselfälle der Existenz nach Maßgabe ihres Streßfaktors in eine Rangfolge: vom Tod des Partners (100 Gefahrenpunkte) über Midlife-crisis und Gefängnisstrafe (jeweils 60) bis zur Änderung der religiösen Aktivitäten (15) und Falschparken (5). Die verschiedenen Lebensalter mit ihrem je eigenen Reifegrad sind sub specie Anti Aging natürlich obsolet geworden. An ihre Stelle treten vier Phasen: die Aufbauphase (bis zum zwanzigsten Lebensjahr), die Präventionsphase (zwischen zwanzig und vier­zig), die Strategiephase (zwischen vierzig und fünfzig), in der man sich spätestens ein »personal health management« zulegen sollte, und die Alterungsphase, in der »die Erhaltung der Lebensqualität eindeutig Priorität« hat.

Das Leben wird also vor allem als Funktion seiner Länge wahrgenommen. Alle einzelnen Vollzüge ordnen sich diesem Zweck ein und unter: »Lachen Sie mehr!« »Schmusen und kuscheln Sie! Zärtlichkeiten mit Hautkontakt stimulieren die Ausschüttung des Hormons Oxytocin.« Kurzum: »Für Ihren Testosteronhaushalt gibt es nichts Besseres, als sich möglichst viel der Liebe hinzugeben.« Unter diesen Umständen lohnt es sich, das Leben noch einmal auf seine Prioritäten hin zu überdenken. So kann man sich die Anti-Aging-Zielgruppe in einem ständigen Kampf um sich vorstellen, in einer permanenten »Bildhauerei ihrer selbst« (Foucault). »Bemühen Sie sich um Routine und Rhythmus in Ihrem Leben« (sonst geraten die Hormone durcheinander). »Sorgen Sie beim Essen für italienische Verhältnisse« (reduziert oxidativen Streß). »Nehmen sie Ihre Umwelt immer wieder bewußt wahr, und versuchen Sie sich möglichst viele Details einzuprägen« (trainiert die Gehirnfunktionen). »Pflegen Sie soziale Kontakte, und nutzen Sie kulturelle Angebote; soziale Isolation führt leicht zu depressiven Verstimmungen und pessimistischer Lebenseinstellung« (was ja die Ausschüttung des Streßhormons Adrenalin bewirkt). Da indessen die Forschung weiter fortschreitet und so mitunter ­gegen­sätzliche Empfehlungen und Verbote mit­einander konkurrieren, bedarf es der sorgsamsten Beschäftigung, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Ähnlich wie die Angehörigen der New Economy im Rhythmus der wechselnden Börsenkurse lebten, müssen die Anhänger der neuen Jugend täglich die wechselnden Gesundheitskurse verfolgen, um zu verantwortlichen Entscheidungen für die Gestaltung ihres Lebens zu gelangen. Die Ratgeber lassen keinen Zweifel daran, daß manche ihre Gebote Zivilisationsschäden kompensieren. Wer sich aus rationaler Einsicht darum bemüht, ausreichend Optimismus, Eigensinn, Sport (»beeinflußt zahlreiche Parameter des Stoffwechsels günstig«) und Schlaf in seinen Lebensplan einzubauen, rekonstruiert zunächst nur das, was der vor-moderne Naturmensch schon ganz ohne Bewußtsein hatte. Die künstliche Natürlichkeit des Anti-Aging-Programms ist dagegen an die Bedingung eines möglichst fortgeschrittenen Zivilisations- und Bewußtseinsstands gebunden: »Hoher Lebensstandard ermöglicht mehr Selbstpflege.« Das bringt zahlreiche Selbstwidersprüche mit sich, die der gegen das Alter Kämpfende in seinem Inneren austragen muß. Nicht nur, daß er die ihm abverlangte Konstruktion von Spontaneität vor sich selbst geheimhalten muß, um ihre lebensspendende Kraft zu bewahren; er muß auch den Vitalitäts- und Erfahrungsverlust irgendwie wettmachen, den die Neutralisierung und Transzendierung des eigenen Lebensalters mit sich bringt. »Das kalendarische Alter wird zur Nebensache, biologische Top-Form der Normalzustand«: So viel Normalität will mental erst einmal verkraftet sein. Je mehr Körper, Geist und Leben von einem selbst inszeniert werden, desto unwirklicher, disponibler, kontingenter, beliebiger können sie einem vorkommen. Ebenso unberührt von Spuren des Alters, wie es das biologische Ideal des Anti-Aging-Programms vorsieht, ist die Moral, die dieses Programm nahelegt: Alle regionalen und historischen Bezüge, die seinem Anspruch auf ein neues Weltethos im Wege stehen könnten, sind getilgt. Übrig bleibt die allseits anschlußfähige Verheißung, mit bestimmten rituellen Handlungen Leben und Altern unter Kontrolle zu bringen, das Schicksal zwingen zu können – eine Vorstellung, die sich als zeitgemäße Version eines magischen Denkens bezeichnen läßt. Damit einher geht der Glaube, jede Krankheit verweise auf ein sündhaftes, die Gebote brechendes Leben. Die subjektive Plausibilität des Verlangens, bis zu einem möglichst späten Tod ohne große Krankheiten und Beschwerden zu leben, korrespondiert nämlich bezeichnend mit den Erwartungen der Außenwelt: des Arbeitsmarktes auf ungeschmälertes Leis­tungsvermögen, der Versicherungen auf ei-nen kostenneutralen Lebensabend, der Gesellschaft insgesamt auf allzeit fittes, freundliches und optimistisches Erscheinungsbild. Diese so glücklich prästabilierte Harmonie zwischen subjektiven und allgemeinen Interessen könnte sich nur zu leicht in einen Anspruch der Allgemeinheit an das Subjekt verkehren: Krankheit und Leiden werden dann, sofern bei ihnen eine Zurechenbarkeit des einzelnen unterstellt werden kann, unter gesellschaftliche Ächtung gestellt. Bisher ist indessen allen Ambitionen auf individuelle Planbarkeit des Lebensalters eine objektive Grenze gesetzt: die genetische Grundausstattung. Alle Bemühungen bewegen sich nur innerhalb dieses Rahmens, den man bisher bloß ungenügend kennt. Es ist absehbar, daß sich das ändert, daß nicht nur die Wissensgesellschaft als Ganze mehr über die genetischen Bedingtheiten ihrer Gesundheit erfährt, sondern auch jeder einzelne. Wenn dem Publikum die Arbeit am Leben bis dahin zur Pflicht geworden ist, wird es dem Ehrgeiz der Gen-Industrie und deren Verbündeten bei Arbeitsmarkt und Versicherungen keinen Widerstand entgegensetzen.

Mark Siemons


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