Ein Arzt aus Bagdad berichtet.
*Der Irak ist täglich in den Medien. Es sind die immergleichen Meldungen von Attentaten, Toten und Gewalt, die uns ebenso erschrecken wie abstumpfen. Schon lange suchten wir nach denen, die darin nicht vorkommen. Im Sommer 2005 hörten wir von den Doctors for Iraq. Auf der People's Health Assembly in Ecuador berichtete der junge irakische Chirurg Salam Ismael von der Ärzteinitiative, die dort ins Kreuzfeuer aller Kriegsparteien gerät - und trotzdem hilft. Wir schickten E-Mails, erhielten keine Antwort. Dann plötzlich ein Anruf: "Hier spricht Dr. Ismael". Einer unserer Partner von den israelischen Physicians for Human Rights hatte dem irakischen Arzt den Kontakt zu medico empfohlen, sie trafen sich auf einem Workshop in Südafrika. Wir luden den Leiter der Doctors for Iraq nach Frankfurt ein. Dr. Salam Ismael kam und berichtete uns einen Tag lang von dem anderen Irak. *
Nothilfe:
Wenn wir Bagdad mit unseren Ärzteteams verlassen, dann sind wir auf uns selbst angewiesen. Der Einfluss der Regierung schwindet, je weiter man sich aus der Hauptstadt entfernt. Wir verfügen über mehrere Ärzteteams, die alle ehrenamtlich arbeiten. Bekommen wir einen Notruf, etwa nach einem Gefecht, und stellen wir fest, dass Hilfe notwendig ist, rufen wir über Mobiltelefone unsere Mitglieder zusammen und fahren in die umkämpften Gebiete. Wir koordinieren uns mit den örtlichen Clans und ihren religiösen Führern. Wir helfen allen, unabhängig davon, warum sie verwundet wurden. Würden wir dieses Prinzip aufgeben, verlören wir unsere Akzeptanz - und unsere Sicherheit. Wir arbeiten nicht nur in den sunnitischen Aufstandszonen, sondern auch in Bagdad. Als im September 2005 in einer Massenpanik über 800 schiitische Pilger auf einer Tigris-Brücke ums Leben kamen, leisteten wir selbstverständlich Erste Hilfe und riefen zu Blutspenden auf.
Neutralität:
Wir sind unabhängig, aber können wir wirklich neutral sein? Du siehst Menschen, die in Stücke geschossen werden, und das macht dich wütend. Wir konnten im Herbst 2004 in die südlichen Stadtteile von Falludscha gelangen, unmittelbar nach der zweiten Offensive der US-Truppen. Wir sahen Leichen, die durch den Einsatz von Brandbeschleunigern geschmolzen waren. Es waren Verbrennungen, wie sie von weißem Phosphor und Napalm herrühren. Die Kleider bleiben dabei intakt, aber die enorme Hitze frisst das Fleisch einfach weg. Danach besuchte ich ein nahes Auffanglager der US-Armee. Kurz zuvor waren alle Männer zwischen 18 und 35 Jahren verhaftet worden. Sollte ich schweigen, um die Amerikaner nicht zu verärgern und weiterhin die Flüchtlinge versorgen zu können? Ich entschied mich zu sprechen. Sonst hätten mir die Betroffenen geantwortet: "Ich brauche deine Hilfe nicht, wenn du mir nicht hilfst, dass meine Stimme von anderen gehört wird".
Sensibilität:
Wir müssen hinter den militärischen Vorhang blicken. Es fehlt die nötige Trennschärfe, denn die humanitäre Hilfe droht hinter militärischen Zwecken zu verschwimmen. Wir als Doctors for Iraq sagen es so: Es gibt eine militärisch-humanitäre Mission und es gibt eine humanitäre militärisch-humanitäre Mission. Erstere ist dann der Fall, wenn die Armee versucht den humanitären Helfer zu spielen. Zweitere herrscht dann, wenn die humanitäre Hilfe hinter oder gar mit den Truppen im Schlepptau auftaucht. So wird die Hilfe in die militärische Mission integriert - und pervertiert. Nur ein Beispiel: Nach dem Einmarsch in Bagdad erzwangen US-Offiziere die Übergabe eines Krankenhauses an das Italienische Rote Kreuz. Die Chefärzte wurden abgesetzt, ein weithin sichtbares Rotes Kreuz an den Außenmauern angebracht, der Eingangsbereich militärisch mit Stacheldraht und Fahrsperren gesichert; seitdem mussten die Ambulanzen Umwege fahren. Wenige Monate später schlug eine Rakete im Gebäude ein, die zwei meiner Kollegen tötete. Ohne Sensibilität kann man nicht helfen, schon gar nicht von außen. Es gibt diese abspeisende Hilfe, die zu den Bedürftigen nur eine sporadische Beziehung herstellt: Wir raten, nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen, allen ausländischen NGOs dazu, die Projektplanung und die Ausführung, einfach alles, ortsansässigen irakischen Initiativen zu übertragen. Wir benötigen keinen besonderen Schutz und wissen, was die Menschen wirklich benötigen.
Korruption:
Unser Gesundheitssystem ist mittlerweile völlig kollabiert. Allgegenwärtig ist eine unglaubliche Korruption. Als im letzten Sommer in meinem Krankenhaus in Bagdad die Sauerstoffvorräte zur Neige gingen, baten wir um neue Lieferungen. Daraufhin wurde uns erwidert, das Geld wäre ausgegangen. Kurz darauf erhielten die Mitarbeiter der Rezeption neue Anzüge; auf Sauerstoff mussten wir monatelang warten. An einigen Krankenhäusern werden marmorne Eingangssäulen gebaut, Chefärzte erhalten Laptops, aber die Apotheken haben nicht genug Medikamente.
Abwanderung:
Besonders hart trifft uns der Brain Drain, die Abwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte, sowohl im Bildungssystem, aber noch stärker im Gesundheitssektor. Dazu kommen die gezielten Anschläge auf die Intelligenz. In den letzten anderthalb Jahren wurden ca. 250 irakische Professoren und Ärzte Opfer von Attentaten! In meiner Abteilung wurden zwei von neun Mitarbeitern ermordet. Die US-Truppen spielen eine unrühmliche Rolle. Auch sie, warum auch immer, beschießen uns. Während der Operation "Matador" im Mai 2005 wurde das wichtigste Krankenhaus in Hadeetha von ihren Heckenschützen angegriffen. Wir operierten gerade, als sie mit ihren Panzern ins Krankenhaus fuhren. Ärzte wurden verhaftet, das Medikamentenlager brannte vollständig aus.
Privatisierung:
Sie schränkt die Behandlungsmöglichkeiten extrem ein. Medizinische Bedarfsartikel, die früher in staatlichen Fabriken preiswert produziert wurden, wie der schon erwähnte Sauerstoff, kosten heute das Zwanzigfache auf dem freien Markt. Bei über 40 Prozent der erhältlichen Arzneimittel ist das Haltbarkeitsdatum abgelaufen. Falls überhaupt, bekommen wir alte Antibiotika, die vorher wochenlang in der Wüste kochten. Viermal haben die irakischen Ärzte in den letzten anderthalb Jahren gegen diese Zustände gestreikt. Als Antwort kam die Armee. Diesmal waren es Iraker. Die Soldaten stürmten ins Krankenhaus und zerschlugen einem Arzt das Gesicht. Sie warfen uns vor, sie nicht bevorzugt zu behandeln. Den Gesundheitsminister kümmert das nicht.
Religion:
Ein besonders sensibles Thema ist die zunehmende Präsenz politischer und religiöser Symbole. Immer mehr Bilder von Imamen tauchen in den Krankenhäusern auf, Prediger kommen mit Megafonen auf die Flure und fordern die Patienten zum Gebet auf. Ich achte die Religion sehr, aber ein Krankenhaus sollte ein Platz der Ruhe sein.
Gesundheitsrechte:
In der neuen Verfassung ist das Recht auf Gesundheit nur eine Marginalie. Auch deshalb knüpfen wir verstärkt Kontakte zur Außenwelt. Der Besuch der People's Health Assembly in Ecuador war eine großartige Erfahrung für mich. Wir versuchen jetzt, den Irak auf die Landkarte des People's Health Movement (PHM) zu bringen. Die internationale und die irakische Gesundheitsbewegung haben vieles gemeinsam, etwa die Erfahrung der Privatisierung. Im Netzwerk des PHM können wir nur lernen. Aber auch die Bewegungen müssen verstehen, wie unsere Situation wirklich ist.
Gerechtigkeit:
Den Prozess gegen Saddam Hussein betrachten wir Iraker mit gemischten Gefühlen, auch wenn wir uns eigentlich freuen sollten, denn er war ein Verbrecher. Einige wünschen sich einen fairen Prozess; andere meinen, er sollte im Ausland verurteilt werden, manche dagegen finden noch immer Gefallen an seinem Auftreten. Alle aber wissen, dass die Fernsehbilder ein letztes Aufflackern einer Vergangenheit sind, die so nicht wiederkehren kann. Saddams Zeit ist unwiderruflich abgelaufen und die Menschen haben andere Sorgen - das Fehlen von Strom, Wasser, Kraftstoff.
Hoffnung:
Viele junge Leute im Irak tun alles, um das soziale Gewebe der Gesellschaft zu heilen. Aber wir stehen erst am Anfang. Die westlichen Berichterstatter reden immer davon, dass unser Land in den Bürgerkrieg zu kippen droht. Mag sein, dass die Chancen dafür fifty-fifty stehen. Aber wir fordern alle auf, nicht auf diejenigen zu blicken, die den Krieg wollen. Denn wir sind die anderen 50 Prozent. Und wir sind die einzige Chance, dass dieser Alptraum enden kann.
Aufgezeichnet von Martin Glasenapp