Jedes Ideal mobilisiert auch eine ambivalente Tendenz

18.08.2006   Lesezeit: 10 min

Im Gespräch: Paul Parin über Paranoia, Mitgefühl und positive Randgruppen

Thomas Gebauer:

Der libanesische Schriftsteller Abbas Baydoun hat mit Blick auf die gewalttätigen Demonstrationen, die Beirut als Reaktion auf die Mohammed-Karikaturen erlebt hat, von einer "islamischen Paranoia" gesprochen.

Paul Parin:

Der Ausdruck der Paranoia ist in meinen Augen falsch gewählt, wie ich überhaupt Begriffe aus der Psychopathologie in der Politik immer für falsch halte. Die Demütigung und Benachteiligung, die große Teile der Weltbevölkerung erfahren, sind ja eine Jahrzehnte währende Realität. Und so ist es natürlich keine Paranoia, wenn die Bevölkerungen der islamischen Welt - bleiben wir mal ganz global - finden, sie seien nicht nur unterdrückt worden, sondern auch unterlegen. In dieser historischen Phase sind sie es ohne Zweifel. Und der Westen ist nicht imstande, eine vernünftige Antwort zu geben. Im Gegenteil: Er lässt keinen Zweifel an seinem Anspruch auf die Weltherrschaft. - Bemerkenswert aber ist auch, dass der Sturm der Entrüstung über die Karikaturen erst Monate nach ihrer Veröffentlichung entbrannte. Offenbar ist der islamische Fundamentalismus so geschwächt, dass er diesen Anlass brauchte, um die Emotionen neu schüren zu können.

Provozierende Karikaturen und brennende Nationalfahnen: das sind starke Symbole. Sind solche Symbole für sich genommen tatsächlich imstande, Feindbilder anzuheizen und einen vermeintlichen Kampf der Kulturen zu begründen?

Seit eh und je sind religiöse Motive weit über die wirklichen religiösen Gefühle der Menschen und deren Religionszugehörigkeit hinaus verwendbar. Ich erinnere mich an eine Untersuchung des Psychoanalytikers Mario Erdheim über die Frage, wie Attentäter, die ihren eigenen Tod in Kauf nehmen, überhaupt rekrutiert werden können. Eines der ältesten Beispiele stammt aus der Zeit des islamischen Staates im Süden Spaniens. Damals sahen sich die Mauren einer Welle von Anfeindungen aus dem benachbarten christlichen Kastilien ausgesetzt. Angetrieben von der dortigen katholischen Geistlichkeit kam unter den jungen christlich erzogenen kastilischen Adeligen der Brauch auf, sich nach Granada einzuschleusen, um dortige Moscheen durch Akte der Zerstörung und des Vandalismus zu entheiligen. Die Leute wurden von der Palastwache natürlich sofort abgefangen, vor Gericht gestellt und geköpft. Kaum aber waren sie geköpft, wurden sie in Kastilien zu Märtyrern erklärt. Das ging solange, bis der Imam von Granada es satt hatte, dem katholischen Glauben unablässig neue Märtyrer zu liefern. Kurzerhand befand er, dass es sich bei den fundamentalistischen Attentätern nicht um Märtyrer, sondern ganz offensichtlich um Geisteskranke handelte. Fortan wurden sie nicht mehr geköpft, sondern mit der Empfehlung zurückgeschickt, sie den besten Ärzten zu überlassen. Dadurch fand diese erste Welle von selbstmörderischen Attentaten ihr Ende. Religiöse Symbole alleine sind nicht imstande, massenhafte Attentate und Proteststürme auszulösen. Immer sind Leute notwendig, die einen solchen Sturm für die Durchsetzung ihrer politischen Zwecke brauchen und die auch die Möglichkeiten haben, ihn zu entfachen. Sigmund Freud sah in Religionen eine Illusion. Sie sind eine Illusion, aber eine, deren Symbole leider sehr leicht manipulierbar sind.

Auch die Symbole der säkularen Welt, die Verheißungen der Waren, scheinen nicht mehr sicher. Armut und soziale Exklusion betreffen längst auch die reichen Regionen der Welt. Die Kehrseite dieser Entwicklung sind zunehmende Ressentiments, die sich gegen alles wenden, was an den Verlust des sicher geglaubten Heils erinnert. So hetzte die dänische Jyllands-Posten, bevor sie gegen Muslime zu Felde zog, gegen das liberale und egalitäre Kopenhagen.

Ja, es gibt das Interesse, den Konflikt virulent zu halten. Dazu gehört auch der Beschluss der französischen Nationalversammlung, die Kolonialkriege einschließlich des Krieges gegen Algerien, der ja aufs Unheilvollste auf Frankreich zurückwirkte, als einen Schritt zur Zivilisierung der Welt zu bezeichnen. Die vermeintlichen Vorzüge der Kolonialherrschaft herauszustellen, ist mindestens genauso frech wie die Karikaturen in einer rechts orientierten Zeitung. Hier wird etwas hochgespielt, weil man es braucht. Dabei nimmt man unheimliche massenpsychologische Prozesse in Kauf. Die Verletzung religiöser Symbole jedenfalls zeigt weit über die im engeren Sinne religiösen Menschen hinaus Wirkung.

Was müsste denn geschehen, um aus solcher Regression herauszufinden?

Wenn ich das wüsste, hätte ich es längst publiziert. Einstweilen habe ich ein viel näheres Ziel. Es rührt aus meiner Erfahrung mit einer Zeit, in der tatsächlich die gesamte Zivilisation kaputtzugehen schien. Doch selbst damals, während des deutschen Nationalsozialismus, zeigte sich, dass nicht alle Mentalitäten verlorengegangen sind. Es gab die Emigration, es gab eine ins Ausland vertriebene geistige Elite, die dann, als der deutsche Nationalsozialismus notabene militärisch und mit großen Opfern besiegt worden war, dafür sorgte, dass wieder eine Zivilisation in Deutschland entstehen konnte, die gegen den Krieg eingestellt ist. Ich könnte die Frauen und Männer aufführen, die das bewirkt haben. Und hier kommen auch Hilfsorganisationen ins Spiel: Sie sichern das Überleben solcher vorerst machtloser Gruppen, die dennoch dafür garantieren, dass die Werte der Einfühlung und der Menschenliebe nicht ganz verkommen. Solche Werte sind festgeschrieben, sie müssen aber immer wieder neu durchgesetzt und realisiert werden. Damit sie nicht aussterben, müssen die Leute, die sie in politisches Handeln umsetzen, zuallererst überleben. Wichtig für dieses Überleben sind Organisationen, die in diesem Sinne politisch handeln, die Kinderkrippen organisieren, Kampagnen gegen Aids führen oder dafür sorgen, dass nicht überall das Trinkwasser privatisiert wird, was die Hegemonialstellung des Kapitals nur noch festigen würde. Man muss das tun, was man ohnehin macht: den "positiven Randgruppen" – kann man sie so nennen? – , also denen, die kein Interesse haben, die Spirale der Irrationalität und Zerstörung weiter zu treiben, ein Überleben zu ermöglichen. Das Ziel ist, dass etwas übrig bleibt. Geradeso wie ich damals gehofft habe, dass der Nationalsozialismus nicht alles zerstören kann.

Was die Psychoanalyse bisher verabsäumt hat - und das tut mir sehr leid -, ist die Veröffentlichung einer Psychologie der Macht, ohne die keine Aufklärung der unbewussten Motive der Massen möglich ist. Für eine solche Untersuchung gäbe es ohne Frage genug Material, aber niemand hat sich bisher bereit erklärt, die Psychoanalyse des Unbewussten kleinerer, größerer und ganz großer Gruppen, von erweiterten Familien, Clans, Nationen und Staaten, gegeneinander abzuwägen. In den USA gab es in den siebziger Jahren ein psychologisches Forschungsinstitut, dem es gelungen war, sich sehr weitreichend in den scheinbar unlösbaren Konflikt zwischen Israel und Ägypten einzuschalten. Seine Mitarbeiter aber hatten völlig außer acht gelassen, dass sie selbst Repräsentanten der amerikanischen Zivilisation waren und dass die Ratschläge, die sie gaben, in den Augen der Konfliktparteien keineswegs neutral sein konnten. Alle wussten, dass hinter dem Forscherteam eine hegemoniale Großmacht stand, nur die Forscher selbst wollten das nicht sehen, weshalb auch ihr Verständnis für das Konfliktgeschehen völlig verzerrt blieb. Ein Verständnis des inneren Zusammenhangs von Hilfe und Macht aber ist deshalb so wichtig, weil Hilfsaktionen ja nicht nur die Freundlichkeit und die Menschenliebe, sondern auch die Solidarität und die Verantwortung für andere Menschen, so fremd sie auch sein mögen, wahrnehmen wollen. Seit 1960 bemüht sich die kommunistische Regierung des indischen Teilstaates Kerala um die Überwindung der völligen Rechtlosigkeit der unteren Kasten. Bis heute ist es ihr nicht gelungen. Eine kürzlich publizierte Untersuchung hat gezeigt, dass selbst in der besten Absicht noch das Althergebrachte und das religiös gefärbte Bedürfnis mitschwingt, eine Gruppe von Menschen als Kaste der Unverantwortlichen und Ungebildeten zu stilisieren. Auch in Kerala leben die Leute der untersten Kaste noch wie zur Kolonialzeit und zur Zeit der Mogule.

Aus der Perspektive der Unterdrückten ist der Ausnahmezustand die Regel, sagt Walter Benjamin. Nicht der Fortschritt, sondern das Leiden bildet das Kontinuum der Geschichte. Statt aus dem abstrakten Ideal speist sich die Utopie aus der Leidenserfahrung und dem Aufbegehren gegen das damit verbundene Unrecht.

Ja, das ist absolut richtig. Es ist das Leiden, das die compassion, wie es im Englischen heißt, das Mitgefühl auslöst. Das ist ebenfalls eine menschliche Konstante. Seit vielen Jahren stehe ich im Kontakt mit einem hochgestellten buddhistischen Philosophen, der seit bald 30 Jahren in einer Einsiedelei in Sri Lanka lebt. Als der Tsunami hereinbrach, war er ganz euphorisch: Das sei wunderbar, so viel Mitgefühl habe es noch nie gegeben. Zur buddhistischen Philosophie zählt die Idee, wenn einmal eine Mehrzahl der Menschen durch die Tugend der compassion ergriffen sein wird, dann sind auch die Probleme gelöst. Jeder ist aufgerufen, durch Meditation und gründliches Studium der Ideen Buddhas, die Fähigkeit des Mitfühlens auszubauen. Auch wenn die Idee einer von Tugenden ergriffenen Mehrheit nicht ohne poetische Relevanz klingt, ist das Problem doch, dass sich zum Durchblick doch wieder ein Glaubensbekenntnis gesellt. All die Studien sind nämlich nichts ohne den Glauben an die Weisheit Buddhas. Und das ist es, was Buddhisten wieder von anderen trennt.

Es gibt keine Idealbildung, die nicht mindestens eine ambivalente Tendenz mitmobilisiert. Auch in den besten Idealen einer zivilisierten Welt schwingt immer auch ein aggressiver Moment mit. Es stimmt nicht, dass im real existierenden Sozialismus alles nur wirtschaftlich bedingt war, er ist auch daran gescheitert, dass es in ihm überhaupt kein Verständnis dafür gab, dass in Idealen gleichsam beides zur Geltung kommt: die verdrängte und abgewehrte Aggression wie auch die compassion, das Einfühlungsvermögen. Diese Grundambivalenz beschreibt eine Lücke, die, wie ich glaube, nicht genügend erforscht worden ist.

Ideale verlangen nach Identifikation, nach Ausbildung von Identität, die auch zum Zwang werden kann und schließlich dafür sorgt, dass das angestrebte Neue selbst wieder von Herrschaft durchzogen ist.

Es gibt einen berühmten Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud. Einstein, ein großer Pazifist, hat brieflich Sigmund Freud gedrängt, er solle endlich sagen, was man machen muss, dass die Zivilisation sich durchsetzen wird, und solche Rückfälle in die Barbarei, wie sie der Erste Weltkrieg zweifellos darstellte, sich nicht wiederholen. Zuerst weigerte sich Freud: Er sei kein Prophet, er sei Psychologe. Einstein aber bedrängte ihn und sagte: Sie wissen doch alles, was im Unbewussten der Menschen vorgeht; wissen Sie mir zu sagen: Wird das ewig so sein? Freud erwiderte schließlich: Ja, wenn wir das Wissen anwenden, dann kommen wir weiter; aber Gottes Mühlen mahlen langsam. Und weil das so ist, habe ich in meinem Optimismus den eher bescheideneren Weg gewählt. Einen Weg an der Seite derjenigen, die nicht für eine hegemoniale, die Welt zerstörende Politik stehen. Reichtum und Armut sind so innig miteinander verknüpft, dass es durchaus Sinn machen würde, die zuletzt immer weiter aufgegangene Schere zumindest soweit wieder zu schließen, dass man den nächsten Blick auf die Welt werfen könnte. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass man die Krebskrankheit wird verbannen können, und ich halte es auch für einen Irrsinn, wenn Pseudobiologen meinen, das Menschenleben unendlich verlängern zu können. Dadurch, dass ein paar privilegierte Hundertjährige mehr am Leben bleiben, kann man nicht schließen, dass die Krankheiten und mit ihnen auch die Toten aus der Welt geschaffen werden.

Die moderne Medizin empfindet es als Scheitern, wenn sie den Tod nicht verhindern kann; Patienten geben Unsummen aus, um das moderne Märchen der ewigen Gesundheit zu pflegen.

Ja, das ist ein alter Traum, der auch beispielsweise von Elias Canetti geträumt wurde: dass es den Tod eigentlich nicht geben sollte. Na ja, das ist sehr schön, doch wäre schon viel erreicht, wenn die Mehrzahl der Menschen einsehen würde, dass der Tod zum Leben dazugehört. Für mich ist eher entscheidend, dass es Menschen gab, die die Emigration aus dem Nazireich nicht für unmöglich befunden haben und eine Zivilisation gelebt haben, die jedenfalls besser war als die in Nazi-Baracken.

Paul Parin, geboren 1916 in Slowenien, ist Neurologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller. 1944-45 ging er - organisiert von der Schweizer CSS (heute medico international Schweiz) als Arzt zu den Partisanen Jugoslawiens. Zusammen mit seiner Frau Goldy Parin-Matthey unternahm er mehrere ethnopsychoanalytische Forschungsreisen nach Westafrika. Paul Parin lebt in Zürich und ist Mitglied im Kuratorium der Stiftung medico international.


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