Krank gespart

30 Prozent der griechischen Bevölkerung sind nicht mehr versichert und auf solidarische Hilfen angewiesen

27.03.2013   Lesezeit: 5 min

Im größten Krankenhaus von Athen ist kein Bett mehr unbelegt, selbst auf den Gängen reiht sich Pritsche an Pritsche. Medizinisch gut versorgt aber wird hier kaum noch jemand. Es mangelt an Arzneimitteln, selbst Verbandsmaterial ist knapp geworden. Ärztinnen und Pfleger tun, was sie können, sind aber heillos überlastet. „Therapie nach Leitlinien erhält kaum noch jemand“, erklärt ein junger Mediziner, „und Unversicherte schon gar nicht“.

Offiziell sind rund 30 Prozent der Bevölkerung in Griechenland nicht mehr krankenversichert, vermutlich aber ist bereits jeder Zweite aus der Absicherung herausgefallen. Seit die Troika durchgesetzt hat, dass alle sozialstaatlichen Leistungen, inklusive Krankenversicherung, zwölf Monate nach Verlust des Arbeitsplatzes einzustellen sind, ist die steigende Zahl Arbeitsloser ein sicherer Indikator für die zu erwartenden gesundheitlichen Belastungen der Bevölkerung. Schließlich ist jeder vierte Grieche aktuell arbeitslos, bei Jugendlichen unter 24 Jahren sind es mehr als die Hälfte. Zu der Perspektivlosigkeit angesichts eines kollabierenden Wirtschaftssystems gesellt sich die Angst, welche Folgen eine akute Erkrankung haben kann - ökonomisch und gesundheitlich. Wer nicht krankenversichert ist, muss die Kosten einer Behandlung vor Ort in bar bezahlen oder aber das Geld wird am Ende des Jahres über die Steuer eingezogen. Betroffene konsultieren also nur noch einen Arzt, wenn sie über Geldreserven verfügen - oder erst dann, wenn es gar nicht mehr anders geht.

Leere Regale in den Apotheken

Ähnlich dramatisch ist auch die Situation bei der Versorgung mit Arzneimitteln. Seit 2012 bekommt man in Apotheken Tropfen, Tabletten oder Salben nur noch gegen Barzahlung. Und Hunderte Präparate sind überhaupt nicht mehr erhältlich. Das liegt unter anderem daran, dass Pharmafirmen nicht mehr liefern, weil die Refinanzierung aufgrund des Bankrotts des Nationalen Trägers für Gesundheitsleistungen (EOPYY) ungewiss ist. Die EOPYY, in der verschuldete Krankenkassen zusammengeführt worden sind, soll Verbindlichkeiten von etwa zwei Milliarden Euro gegenüber Ärzten, Apotheken, Krankenhäusern und Pharmaherstellern bedienen, erhält gleichzeitig aber rund 500 Millionen Euro weniger staatliche Zuschüsse. Eine Folge sind leere Regale in den Apotheken.

Am heftigsten trifft die von der griechischen Regierungskoalition, der „inneren Troika“ aus Nea Demokratia, PASOK und DIMAR, durchgesetzte Sparagenda Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Krebs. Vom staatlichen Gesundheitssystem im Stich gelassen, wenden sich viele an die selbst-organisierten solidarischen Kliniken, die angesichts der Krise überall im Land entstanden sind. So auch in Thessaloniki. 250 Patienten pro Woche werden hier von ehrenamtlich arbeitenden Ärztinnen, Ärzten, Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie anderen Gesundheitsaktivisten versorgt. Dafür spendet die Bevölkerung u.a. Medikamente und Babynahrung. „Im Gegensatz zu den Krankenhäusern sind wir ganz gut versorgt“, berichtet ein langjähriger Begleiter von medico und Aktivist im People’s Health Movement, „aber das kann sich natürlich jederzeit ändern, denn auch private Vorräte sind irgendwann erschöpft“.

Als Reaktion auf die Engpässe hat die griechische Regierung bereits einen Exportstopp für manche Medikamente verhängt. Die Pharmaunternehmen wiederum begründen ihre Politik mit den im Oktober 2012 verabschiedeten Preislisten, die sie zu Preissenkungen von 16 Prozent für rund 12.500 Medikamente verpflichtet haben. Mit dieser Maßnahme war die Regierung einer Auflage der Troika gefolgt, die teilweise massiv erhöhten Medikamentenpreise zu reduzieren und den Anteil an verschriebenen Generika zu steigern. Mag dieser Ansatz berechtigt gewesen sein, so sind es zahlreiche andere Auflagen keineswegs. Die seit mehr als einer Dekade akkumulierten Strukturprobleme des griechischen Gesundheitswesens drohen unter dem Sparprogramm zu explodieren. Massive Kostenreduktionen, Stellenabbau und gekürzte Löhne überfordern die öffentlichen Krankenhäuser, während sie gleichzeitig von Patienten überlaufen werden, die sich die private Krankenversorgung nicht mehr leisten können.

Die von außen erzwungenen „Strukturanpassungen“ haben historische Vorläufer in den Programmen, mit denen IWF und Weltbank in den 1980er bis 1990er Jahren Lateinamerika und weitere Länder drangsaliert haben. Auch seinerzeit wurde im Namen eines wirtschaftlichen Aufschwungs an der medizinischen Versorgung der Bevölkerung gespart - mit fatalen Folgen. Das neoliberale Experiment verfehlte die volkswirtschaftlichen Ziele und sorgte für eine rapide gesundheitliche Verschlechterung. Schließlich mussten selbst die Befürworter der Strukturanpassung eingestehen, dass die „menschlichen Kosten“ zu hoch waren. Doch als gäbe es diese Erfahrungen nicht, verlangt heute unter anderem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, dass Griechenland die Auflagen „schnell, umgehend und ohne zu zögern” umsetzen müsse.

Abwerbung von Gesundheitspersonal

Tatsächlich spielt Deutschland für die künftige Gesundheitspolitik in Griechenland eine zentrale Rolle, ist doch das Bundesministerium für Gesundheit für die „Unterstützung Griechenlands im Gesundheitsbereich“ zuständig. Zusammen mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) wird eine Gesamtstrategie erarbeitet. Schon jetzt sind äußerst umstrittene Elemente des deutschen Gesundheitssystems wie die Krankenhausabrechnungen nach Fallpauschalen nach Griechenland exportiert worden. Obwohl hier inzwischen die Nebenwirkungen - von der steigenden Zahl unnötiger Operationen bis zu verfrühten Entlassungen von Patienten aus Kliniken - bekannt sind sowie die erwarteten Kostenersparnisse nicht eintraten, werden sie nun dem griechischen System eingeimpft. Dabei haben die immer neuen Sparrunden und Strukturanpassungen bereits zu gesundheitlichen Katastrophen geführt. Viele Zahlen dokumentieren den Verfall: In Griechenland ist die Suizidrate um 40 Prozent gestiegen, HIV-Infektionen haben um 52 Prozent zugenommen, 26.000 Gesundheitsarbeiter, inklusive 9.100 Ärzten, haben ihre Arbeit verloren, Gelder für psychosoziale Versorgung sind um 45 Prozent gekürzt worden.

Mitten in Europa ist die Abwärtsspirale in Armut und Krankheit voll in Gang. Viele Medizinerinnen und Mediziner in Griechenland reagieren auf diese Entwicklung mit zivilgesellschaftlichem Engagement, indem sie protestieren, Dienst in solidarischen Kliniken leisten und Basisinitiativen gründen. Nach Lohneinbußen von bis zu 65 Prozent und angesichts der drohenden Pleite vieler Kliniken wächst gleichzeitig jedoch ihre Bereitschaft auszuwandern. In Zeiten des „Fachkräftemangels“ etwa in Deutschland werden längst gezielt griechische Ärztinnen und Ärzte abgeworben - und damit die medizinische Versorgung in Griechenland weiter geschwächt. „Eigentlich will ich nicht weg“, sagt der junge Mediziner aus Athen. „Aber so geht es nicht mehr weiter. Vielleicht ist Deutschland ja eine Alternative.“

Kirsten Schubert

Projektstichwort

Unsere Referentin für Gesundheit war Ende Februar für medico auf einer Delegationsreise in Griechenland und konnte mit vielen Gesundheitsaktivistinnen und -aktivisten über die Folgen der Krise sprechen. Globale Gesundheit heißt für medico, das Recht auf Gesundheit für alle Menschen an allen Orten zu verteidigen. Unterstützen Sie unsere Öffentlichkeitsarbeit dabei. Stichwort: Gesundheit.


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