Fonds für Bewegungsfreiheit

Die Kriminalisierung der Bewegungsfreiheit in Italien

26.08.2024   Lesezeit: 8 min

Eine abolitionistisch-feministische Perspektive. Von Deanna Dadusc, Cheikh Sene, Camille Gendrot, Papamadieye Dieye, Aila Spathoupolou, Anna Carastathis.

Übersetzung: Tim Thiessen

Die Verschiebung in den 1990er Jahren hin zu einer verschärften Kriminalisierung und Bestrafung derjenigen, die die Ankunft für von der EU unerwünschte Menschen erleichtern, ist Teil der voranschreitenden Militarisierung, Versicherheitlichung und Externalisierung der EU-Migrationspolitik. Bis heute ist Italien eine treibende Kraft bei der Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht nach Europa und ihren Unterstützer:innen. Ebenso hat Italien eine Vorreiterrolle bei der Externalisierung der EU-Grenzen. So hat Italien um deren Grenzschutz zu fördern Abkommen mit Libyen, Tunesien und Ägypten geschlossen und plant die Verlegung von Inhaftierungszentren für Schutzsuchende nach Albanien.

Es überrascht nicht, dass Italien einer der Hauptbefürworter für einen internationalen Vertrag zur Kriminalisierung der Hilfe bei illegalisierten Grenzübertritten war. Im Jahr 2000 wurde dieser Vertrag mit der Verabschiedung des Palermo-Protokolls Realität, da somit die Unterstützung von Menschen auf der Flucht einen anderen Staat zu betreten als transnationales organisiertes Verbrechen eingestuft wird.

Zwei Jahrzehnte später ereignete sich der tragische Schiffbruch von Cutro, bei welchem mindestens 94 Menschen ertranken. Die daraus gezogenen Konsequenzen waren nicht etwa eine Wendung hin zum höheren Schutz für Menschen auf der Flucht zur Verhinderung zukünftiger Massaker, sondern eine Verstärkung der Kriminalisierung und Kontrolle. Tatsächlich erhöht das sogenannte Cutro-Dekret die Strafen für Personen, die der Unterstützung zur Flucht beschuldigt werden, auf bis zu 30 Jahre und legalisiert längere Aufenthalte in Rückführungszentren (CPR) für Asylsuchende und auf Abschiebung wartende Personen. Außerdem schafft das Dekret frühere Formen des Schutzes ab ("protezione speciale"), die es teilweise Menschen ermöglichte, wenn auch prekär, Aufenthaltsgenehmigungen in Italien zu erhalten.

Im italienischen Kontext jedoch richtet sich die meiste Aufmerksamkeit der Medien und sozialen Bewegungen auf die Kriminalisierung europäischer Menschenrechtsverteidiger:innen, Such- und Rettungs- oder Solidaritätsinitiativen, wie der Iuventa-Crew (freigesprochen am 19. April 2024), Mediterranea oder in der Vergangenheit der Sea Watch-Kapitänin, sowie den Baobab- und Linea d'Ombra-Aktivist:innen.

Während diese Fälle den Versuch der italienischen Regierung zeigen, jede Form der Solidarität mit Migrant:innen sowie jede dissidente Stimme und jeden kritischen Blick, der die Gewalt an den Grenzen anprangert, zu unterdrücken, ist deren Kriminalisierung Teil eines breiteren Kontinuums von Gewalt und Repression.

Tatsächlich betreffen die meisten Fälle von Kriminalisierung jedoch Menschen und Gemeinschaften auf der Flucht, die in Solidarität miteinander handeln und die Bewegungsfreiheit nach oder innerhalb Italiens versuchen zu ermöglichen. Aktuelle Beispiele dafür sind die Fälle der drei vom Rettungsschiff Sea Eye4 geretteten und in Neapel kriminalisierten sudanesischen Menschen oder die Festnahme der Iranerin Marjan Jamali und der kurdischen Feministin und Filmemacherin Maysoon Majidi in Kalabrien. Kriminalisiert werden auch die, die Boote fahren oder andere Dienstleistungen für Menschen auf der Flucht anbieten. Sie werden mit der abwertenden Bezeichnung „scafisti“ belegt. Ein Beispiel ist der "Agaish-Fall", bei dem eine mit der eritreischen Diaspora in Rom verbundene Solidaritätsgemeinschaft für die Unterbringung und Unterstützung von anderen kürzlich in Italien angekommenen Eritreer:innen als kriminelles Netzwerk dargestellt wurde.

In den letzten 10 Jahren wurden laut dem Bericht "From Sea to Prison" mindestens 3.200 Menschen zu extrem langen Haftstrafen und administrativen Konsequenzen verurteilt, weil sie entweder ein Boot nach Italien steuerten oder dessen beschuldigt werden. Die Verurteilung wird sie den Großteil ihres Lebens begleiten. Sie erschwert es ihnen, Asyl und Aufenthaltsgenehmigungen zu beantragen und nötigt sie zu hohen Geldstrafen. Im Fall der Personen, die nach dem Schiffsunglück von Cutro verhaftet wurden, beläuft sich die Summe auf bis zu drei Millionen Euro.

In Italien werden Menschen, denen vorgeworfen wird ein Boot mit Menschen auf der Flucht gefahren zu haben, oft buchstäblich direkt vom Meer ins Gefängnis gebracht. Sie bekommen keine Übersetzung, keine Aufklärung über ihre Rechte und keinen Rechtsbeistand. Meistens können sie nicht einmal mit ihren Angehörigen kommunizieren, die befürchten könnten, sie seien auf der Überfahrt gestorben, wie Madieye im Videobeitrag erklärt. Es kann Monate oder sogar Jahre dauern, bis diese herausfinden, wo ihre Liebsten eingesperrt sind. Andere, wie Madieye, werden nicht inhaftiert, sondern warten jahrelang auf ein Gerichtsurteil und verbleiben somit in einem rechtlichen Limbo – ohne Gewissheit über ihre Zukunft und unfähig, ihr Leben zu planen. Cheikh erinnert daran, dass diese Zeit im Limbo des Gefängnisses, ihnen nie wieder zurückgegeben werden kann.

Abolitionistischer Feminismus gegen Kriminalisierung

Grenzen und Grenzregime sind Inhaftierungs- und Bestrafungsinstitutionen, die Menschen nicht nur festsetzen oder einsperren, sondern auch die Konstruktion von falschen Dichotomien erfordern. Dazu gehören die Schaffung von Gegensätzen wie schuldig/unschuldig, würdig/unwürdig sowie die Opfer/Täter:in-Binärität. Die Schaffung dieser binären Kategorien dient als Legitimationsstrategie für die Errichtung stärkerer und gewalttätigerer Grenzen.

In einem von uns kürzlich mitkonzipiertem Kurs und Podcast, schlagen wir eine abolitionistisch-feministische Analyse vor. Sie hilft zu verstehen wie Narrative der Sicherheit und Verwundbarkeit nicht etwa zur Kritik des Grenzregimes, sondern zur Legitimierung der Kriminalisierung von sogenannten Täter:innen – also illegalisierten Reisenden – genutzt werden. Zusätzlich rufen wir zu einem abolitionistisch-feministischen Ansatz auf, um Formen der Betroffenheit von Menschen auf der Flucht aufgrund von staatlicher Gewalt und globaler Ungerechtigkeit anerkennen zu können.

Die Aufrüstung der Grenze wird als Maßnahme dargestellt, schutzbedürftige Opfer, einschließlich Frauen und Kinder, vor angeblich gewalttätigen Menschenhändlern zu schützen. EU-Staaten und -Institutionen präsentieren sich selbst als großmütige Retterinnen, während sie in Wirklichkeit genau jene Grenzen schaffen, die Menschen überhaupt erst in Gefahr bringen. Durch die Zuspitzung dieses Widerspruchs schaffen EU-Institutionen geschlechtsspezifische und rassifizierte Stereotypen und Hierarchien, die in erster Linie Personen durch die Reduktion auf Objekte des Schutzes oder der Kontrolle entmenschlichen.

Die Schaffung dieser rassistischen und patriarchalen Dichotomien dient auch zur Legitimierung des Ausbaus der Grenzen und der Verhängung höherer Gefängnisstrafen. Die Kriminalisierten werden als Verantwortliche der Grenzgewalt dargestellt, weshalb sie Bestrafung verdienen würden. Darüber hinaus entziehen sich Staaten durch diese binären Narrative ihrer eigenen Verantwortung für die Gewalt und schaffen einen Prozess der umgekehrten Gerechtigkeit: Anstatt als Täterinnen erkannt zu werden, werden Grenzregime nicht nur zu Retterinnen jener in Gefahr konstruiert, sondern auch zu Opfern derer, die versuchen, sich ihrer Logik zu widersetzen und sie zu überwinden.

Wir erkennen nicht nur die Formen institutioneller und zwischenmenschlicher Gewalt an, denen viele Menschen auf ihren Reisen ausgesetzt sind, sondern verurteilen darüber hinaus die Kriminalisierung der Bewegungsfreiheit in diesem Zusammenhang als einen Verstärker der Gewalt. Sie schafft die Bedingungen für gefährlichere und tödlichere Routen, was Menschen dazu zwingt, längere und teurere Routen auf sich zu nehmen. Zur Vermeidung von Grenzkontrollen, werden die Fluchtwege gleichzeitig unsichtbarer und prekärer.

Je mehr Unsichtbarkeit und Prekarität herrscht, desto höher wird die Abhängigkeit von Menschen auf der Flucht von anderen Akteuren, die diesen Umstand möglicherweise zur Ausbeutung oder zum Missbrauch ausnutzen. All diese Elemente schaffen Bedingungen für Gewalt, anstatt diese zu beseitigen.

Nicht zuletzt übt die Kriminalisierung der Bewegungsfreiheit Gewalt gegen jene Menschen aus, die kriminalisiert, inhaftiert und eingesperrt werden oder sogar jahrelang verschwunden sind, sowie gegen ihre Fürsorgegemeinschaften – von denen sie entweder direkt abhängig sind oder die sie aus der Ferne unterstützen. Wie Cheikh und Madieye bedrückend erklären, ist das Grenzregime und die Kriminalisierung der Bewegungsfreiheit ausschlaggebend für das Sterben auf dem Meer sowie der organisierten Vernachlässigung der Überlebenden.

Ihr Kampf zeigt kraftvoll, dass Grenzen ebensowenig wie Gefängnisse funktionieren. Sie halten Menschen weder auf, noch schrecken sie sie ab. Sie hindern Menschen nicht daran, Widerstand zu leisten und Grenzen zu überschreiten. Sie bringen Menschen nicht zum Schweigen. Zusammen mit vielen weiteren Menschen, die sich entlang der Flucht solidarisch selbst organisierten, zeigen Cheikh und Madieye deutlich: Der Kampf der Menschen für Freiheit wird immer stärker sein als jedes Gefängnis und jede Grenze.

Zum Kampf der Bewegungsfreiheit für alle, ist die Dekonstruktion des Begriffs „Schleusertum“ notwendig. EU-Institutionen charakterisieren das „Schleusertum“ durch Gewalt und Zwang der angeblich profitorientierten "scafisti" gegenüber schutzbedürftigen Opfer. Der Schutz Letzterer könne nur durch harte und strafrechtliche Instrumente und Inhaftierungen vom Staat gewährleistet werden. Lediglich die Auflösung des Konstrukts „Schleusertum“ schafft Solidaritäten und Allianzen zwischen all jenen, die für Bewegungsfreiheit einstehen und für sie kämpfen.

Für mehr Hintergrundinformationen können folgende Webseiten besucht werden:

Autor:innen

Deanna Dadusc, Camille Gendrot, Aila Spathoupolou und Anna Carastathis gehören zum Feministischen Autonomen Zentrum für Forschung mit Sitz in Athen und Palermo und leiten gemeinsam den Forschungsstrang Feministische Kämpfe ohne Grenzen.

Cheikh Sene und Papamadieye Dieye sind Teil der Maldusa-Crew und leiten die Maldusa-Station in Palermo. Sie sind auch Mitbegründer des Kulturvereins Ragazzi Baye Fall mit Sitz in Palermo.

Alle Autor:innen sind mit dem Captain Support Network verbunden, einer Plattform zur Unterstützung kriminalisierter Menschen auf der Flucht.

Mit dem Fonds für Bewegungsfreiheit unterstützen wir Menschen, die an den Rändern Europas unrechtmäßig in Gefängnissen sitzen oder sich verteidigen müssen. Wir finanzieren Prozess- und Anwaltskosten, unterstützen im Alltag und schaffen mit öffentlichen Kampagnen Aufmerksamkeit – weil Flucht kein Verbrechen ist. Helfen Sie uns dabei!


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