Der langjährige libanesische Partner von medico AMEL führte in 2017 und 2018 eine transnationale Seminarreihe zu Fragen der transnationalen Solidarität mit Geflüchteten (Menschen im Exil) und Transit- und Aufnahmegesellschaften durch. Nach Seminaren in Paris und Athen, trafen sich im Juni 2018 Aktivistinnen und Aktivisten aus vielen Ländern auf Einladung von AMEL in Rom, um gemeinsam zu diskutieren, wie die europäisch-mediterrane Solidarität mit Geflüchteten und Aufnahmegesellschaften konkret gestärkt werden kann – just in den Tagen, in denen dem Rettungsschiff Aquarius erstmals die Einfahrt in einen italienischen Hafen verwehrt wurde und diese im Mittelmeer kreuzen musste, bis Spanien sich durchrang, die Aquarius nach Valencia einlaufen zu lassen.
medico international und AMEL arbeiten seit den 1980er-Jahren zusammen, vor allem bei der Unterstützung palästinensischer und inzwischen auch syrischer Flüchtlinge im Libanon. Seither setzen wir uns auch für die Verteidigung der Rechte von Migrantinnen und Migranten ein. Gemeinsam mit unseren Netzwerken von Partnerorganisationen in Afrika, Lateinamerika, Asien, dem Nahen Osten und Europa beobachten und kritisieren wir drastische Zunahme einer auf Externalisierung, also Auslagerung basierenden Migrationspolitik. Diese Arbeit erfordert unbedingt einen transnationalen Vernetzungsansatz, da die Strategien und Instrumente der Externalisierung in wachsendem Maße auch von traditionell aufnahmefreundlichen Ländern übernommen und angewendet werden. In immer mehr Ländern geht Externalisierung mit entsprechenden Strategien wie verschärften Grenzkontrollen und der Übernahme anderswo ausgewiesener, abgeschobener, entrechteter und zermürbter Menschen mit einer Schwächung der Rechte der Menschen und mit struktureller Gewalt gegen Geflüchteter und Migrierter einher – und zwar sowohl seitens staatlicher Institutionen als auch seitens der Bevölkerung. Für medico kommt das Recht auf Mobilität in der Forderung nach dem Recht zu Gehen und dem Recht zu Bleiben – jeweils in freier Wahl und in Würde – als zwei Seiten derselben Medaille zum Ausdruck.
Die sogenannte „Krise der Migration“ verweist auf strukturelle Krisen, für die Europa und seine Mitgliedstaaten eine bedeutende Mitverantwortung tragen. Sie sind vor allem Ausdruck einer Krise der Solidarität zwischen Europa und verarmten Bevölkerungen in der Welt, die oft von korrupten Autokraten oder Clans regiert werden – und das allzu oft im Einvernehmen mit oder gar mit Unterstützung von europäischen Staaten. Die Krise der Solidarität von Europa mit seinen Nachbarn, aber auch in Europa selbst ist eine Fortsetzung der Krise der Solidarität auf globaler Ebene – und die Politik der Externalisierung ihr konkretester Ausdruck.
Die reichen Länder des globalen Nordens leben auf Kosten der Bevölkerungen des globalen Südens, ihre imperiale Lebensweise beruht auf Externalisierung – von der Auslagerung der ökologischen Folgen ihrer Produktions- und Konsumweisen über den profitablen Waffenhandel bis hin zu anderen Ursachen, die Menschen weltweit zu Flucht und Migration zwingen. Ausgelagert werden auch die Geflüchteten und Migrierten selbst, sei es durch das Dublin-Abkommen in Länder am Rande Europas oder in zu sicheren Herkunftsländern erklärte Staaten, sei es, indem ihre Weiterreise aus Transitländern verhindert wird. Zudem setzt Europa darauf, möglichst viele derjenigen, die es allen Maßnahmen zur Grenzsicherung und fragwürdigen Deals der EU zum Trotz nach Europa geschafft haben, wieder loszuwerden. Das Paradigma der Rückkehr ist sowohl in politischen Diskursen als auch in der Praxis bestimmend geworden – entweder durch die Förderung einer sogenannten „freiwilligen“ Rückführung oder durch die wachsende Zahl von Abschiebungen.
Neue Vulnerabilitäten
Die aktuelle europäische Migrationspolitik verstärkt die Krise der Solidarität verstärkt und erzeugt neue Vulnerabilitäten, also Verletzlichkeiten und Unsicherheiten:
- Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten stranden zunehmend in Ländern, in denen es keine hinlänglichen Sicherungssysteme gibt und die öffentlichen Angebote und Strukturen nicht einmal die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung decken. Dabei ist bemerkenswert, dass es in vielen Länder, in denen weite Teile der Bevölkerung deklassiert sind, eine deutlich größere Solidarität (auch mit den dort Gestrandeten) zu geben scheint als in den reichen europäischen Ländern.
- Angesichts der Konkurrenz um den Zugang zu den spärlichen öffentlichen Dienstleistungen nimmt die Stigmatisierung von Geflüchteten und Migrierten zu. Anstatt gemeinsam zum Beispiel für mehr bezahlbaren Wohnraum oder eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung für alle zu kämpfen, werden sie als Konkurrenten wahrgenommen.
- Hinzu kommt die Praxis der sogenannten „freiwilligen“ Rückführungen und Abschiebungen nicht nur in die Herkunftsländer, sondern auch in Drittländer außerhalb oder innerhalb Europas (im Rahmen von Dublin-Abschiebungen). Das führt dazu, dass Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge in ohnehin überlasteten Gesellschaften wie Griechenland oder Marokko stranden.
- All das führt dazu, dass Menschen immer häufiger und oft auf Dauer in unzureichende provisorische Verhältnisse geraten, ohne jede Perspektive auf eine wirtschaftliche, soziale oder gar politische Integration.
- Verstärkt entstehen neben den regulären Sozialsystemen nachrangige Parallelstrukturen für Migranten und Flüchtlinge, etwa im Bereich der psychosozialen Versorgung, die zudem oft an nichtstaatliche Akteure ausgelagert werden. Ein Beispiel für solche Zwei-Klassen-Systeme sind beschleunigte Therapieverfahren für Migrierte und Geflüchtete und Flüchtlinge, die vor allem darauf zielen, Rückführungen und Abschiebungen schneller durchführen zu können.
- Die Vulnerabilität nimmt auch durch die wachsende Kriminalisierung von Migrantinnen und Migranten wie auch ihrer Unterstützer zu.
- Hinzu kommt eine Politik der Verunsicherung. Neue Gesetze und Verordnungen werden erlassen, schlecht kommuniziert und ein unsicherer rechtlicher Status wird auf Dauer gestellt.
Europa schafft solche neuen Vulnerabilitäten aber nicht nur bei Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten sowie in Transit- und Gastländern an den Rändern Europas. Vielmehr nehmen sie auch in und zwischen den eigenen Gesellschaften zu. In Europa und vielen europäischen Ländern geben inzwischen Populisten und extreme Rechte (sowie eine pragmatische Linke, die behauptet, „realistisch“ zu sein) die Richtung vor, indem sie darauf pochen, dass Solidarität Grenzen habe – und dabei die Tatsache ignorieren, dass Teile der eigenen Bevölkerung in, wie ich es nennen würde, auch nach Innen externalisierenden Gesellschaften unter den gleichen strukturellen Deklassierungen, Ausgrenzungen und Ausschlüssen leiden.
Von daher geht es darum, den Diskursen und Politiken zu widersprechen, die behaupten, Migrierte und Geflüchtete würden die Sozialsysteme sowie Wohn- und Arbeitsmärkte belasten. Stattdessen, so die politische Perspektive, sollten diese sowohl in den Herkunfts- und Transitländern wie auch in den Aufnahmegesellschaften so auf- und ausgebaut werden, dass sie allen gleichermaßen zugänglich sind – und damit auch Flüchtenden und Migrierenden, die sich dort dauerhaft aufhalten oder lediglich durchreisen.
Was als „Migrationskrise“ wahrgenommen wird, ist also eine Krise der sozialen Verteilung innerhalb und zwischen den Gesellschaften. Es geht daher darum, die Mobilisierung der Marginalisierten zu unterstützen, um ihre Rechte geltend zu machen, indem sie ihre Kräfte bündeln und (wieder) politische Akteure werden: Einheimische ebenso wie Flüchtlinge und Migranten. Wir dürfen die Kategorisierung von Menschen und die Schaffung von Zwei-Klassen-Systemen und -Diensten nicht akzeptieren, sondern sollten die Verteilung von nationalen und globalen Ressourcen zum Wohle aller fordern.
Ausgehend von der kommunalen Ebene könnte ein vielversprechend erscheinender Ansatzpunkt der Vorschlag von Gesine Schwan sein, Städte und Gemeinden zur freiwilligen Aufnahme von Flüchtlingen zu ermutigen, indem sie hierfür als eine Art Gegenleistung Mittel aus einem europäischen Fördertopf erhalten, mit denen sie ihre kommunalen Angebote zum Wohle aller weiterentwickeln können.
Aktuell ist allerdings zu beobachten, dass sich die die spaltenden Dynamiken in den Transit- und Ankunftsländern immer weiter nach demselben Modell beschleunigen und verallgemeinern. Umso wichtiger ist daher eine transnationale Perspektive ebenso wie eine Erweiterung des Blickes über den Mittelmeerraum hinaus.
Konkret bedeutet das:
- die Stärkung der Selbstorganisation von Migrantinnen und Migranten sowie von Solidaritätsnetzwerken in allen Regionen, sei es in Griechenland, auf dem Balkan, in Deutschland oder in Westafrika, ebenso wie die Stärkung der Solidarität und gegenseitige Hilfe zwischen Migrierenden und Geflüchteten gegen Isolation und Individualisierung
- die Schaffung von Räumen, die Austausch und Organisierung ermöglichen
- die Sammlung von Informationen, die Aufklärung der Öffentlichkeit und die Mobilisierung von Solidarität
- der Kampf für den Zugang von Flüchtlingen zur Grundversorgung etwa in den Bereichen Bildung und Gesundheit sowie in die Wohn- und Arbeitsmärkte im Gegensatz zur Schaffung von parallelen Systemen, zweitklassigen Diensten, deregulierten Arbeitsmärkten und ausbeuterischen Schattenwirtschaften. Ein Beispiel ist die Kampagne für die (flächendeckende) Einführung einer Gesundheitskarte für Flüchtlinge, die Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem gewährleistet
- ein Drängen darauf, dass der Staat seiner Verantwortung nachkommen muss anstatt selbst die Verantwortung des Staates zu übernehmen. Aus europäischer Sicht bedeutet das auch, dass Europa die Verantwortung für die Geflüchtete und Migrierte nicht an seine Grenzen oder darüber hinaus auslagern darf, sondern selbst übernehmen muss – ebenso wie die Verantwortung, die es für die Ursachen von Flucht und Migration trägt.
Strategische Ausrichtung
Was bedeutet das für die Strategien und die Arbeit einer Organisation wie medico international?
- Wir arbeiten nicht für, sondern mit den Marginalisierten. Es geht uns darum, gemeinsam Strategien zu entwickeln und zusammenzuarbeiten. Das ist nicht immer einfach und es geht auch nicht vom einen auf den anderen Tag, aber es ist angemessener, würdevoller und nachhaltiger.
- Wir versuchen, Formen von Solidarität zu entwickeln, zu fördern und zu stärken. So unterstützen wir die Selbstorganisation und das Selbstmanagement von Geflüchteten sowe von Migrantinnen und Migranten, wo immer es uns möglich ist: in den Flüchtlingslagern der Sahraouis und Palästinenser, in Mali und Marokko, im Mittelamerika oder in Griechenland.
- Wir fördern den Austausch und die gegenseitige Hilfe zwischen verschiedenen Gruppen von Migrierenden. Und wir unterstützen die Solidarität zwischen ihnen und der lokalen Bevölkerung. Ein Beispiel ist ein gemeinsam von Unterstützern und Geflüchteten selbst verwaltetes Hotel in Athen, ein anderes die alljährliche öffentlichkeitswirksame Karawane von Angehörigen aus Zentralamerika, die den Fluchtrouten durch Mexiko folgen und dabei nach Spuren ihrer vermissten Verwandten suchen.
- Wir unterstützen die gegenseitige Hilfe von Geflüchteten untereinander, aber auch die Hilfe, die Migranten für andere Migranten leisten wie unsere Partnerorganisationen Association Malienne des Expulsés (AME), Association des Refoulés d’Afrique Centrale au Mali (ARACEM ) und Association des Refugiés Congolais au Maroc (ARCOM), die in Rabat einen Zufluchtsort für geflüchtete Frauen und ihre Kinder betreibt.
- Wir fördern die Zusammenarbeit zwischen Solidaritätsorganisationen auf subregionaler und regionaler Ebene.
- In Zusammenarbeit mit unseren Partnerorganisationen unterstützen wir auch Ansätze zur Erforschung, Dokumentation und Aufklärung. Mit den Auswirkungen der europäischen Migrationspolitik auf den Fluchtrouten beschäftigen sich zum Beispiel die Publikation „Im Schatten der Zitadelle“, das Projekt „Moving Europe“ auf der Balkanroute oder „Alarmphone“ im Mittelmeer und in der Sahara.
- Wir kritisieren die Rückführungspolitik und informieren über ihre Auswirkungen, zum Beispiel mit einem Projekt, das die Situation derjenigen, die nach Afghanistan zurückgeführt wurden, untersucht und dokumentiert.
- Wir unterstützen die Vernetzung von Migranten- und Flüchtlingsrechtsorganisationen, damit diese sich in Fällen staatliche Repression in ihren Ländern untereinander informieren und unterstützen können.
Geteilte Werte
Unsere Arbeit basiert auf zwei zentralen Prinzipien: Der Universalität der Menschenrechte und mit den Partnerorganisationen geteilte Werte. Der rechtebasierte Ansatz beruht darauf, dass die gleichen Rechte für alle überall gelten und geltend zu machen sind. Er lehnt die Kategorisierung von Menschen ebenso ab wie die Legitimität von Zwei-Klassen-Systemen. Gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen stehen wir ein für die Anerkennung des Rechts auf Freizügigkeit von Menschen und ihrer Mobilität und wir wollen gemeinsam nicht Teil der Infrastruktur der Ausgrenzung und Abschottung sein oder an ihr mitwirken, etwa als „humanitärer Arm“ bei Abschiebungen oder Rückführungen.
Diese Arbeit ist nicht immer frei von Widersprüchen und Dilemmata. Aber wenn wir darauf achten, uns nicht in falsche Diskurse hineinziehen zu lassen oder irreführende Begrifflichkeiten, wie die Rede von der „illegalen“ Migration oder die Diskussion um Quoten zu bedienen und uns nicht für die Abfederung eines Systems einspannen lassen, das auf Ausgrenzung, Stigmatisierung, Klassifizierung von Menschen und Entsolidarisierung beruht, nähern wir uns zumindest einer humaneren, gerechteren und adäquateren Sichtweise und politischen Praxis an – auch, indem wir die Überlebensängste und die Würde der Marginalisierten ernst nehmen, derer, die sich im Exil befinden sowie der sich als „Einheimischen“ definierenden.
Dieser Beitrag erschien als Kurzfassung im medico-Rundschreiben 3/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!