Fast im Wochenrhythmus wird derzeit ein weiterer „Schlag im Kampf gegen die Schleuserkriminalität“ gemeldet – so etwa in der Tagesschau Mitte Mai 2024, oder im Deutschlandfunk eine Woche später. Im Monat zuvor lobte die deutsche Bundesinnenministerin Nancy Faeser eine Großrazzia als „massiven Schlag gegen international organisiertes Schleusen“; und die Liste ließe sich für jeden Monat beliebig fortsetzen. In ganz Deutschland, so suggerieren die Berichte, treiben „gierige Schleuserbanden“ ihr Unwesen: „organisierte Kriminelle“, die Menschen „ohne Rücksicht auf Verluste“ und „unter lebensgefährlichen Bedingungen“ ins Land schmuggeln.
Die Einführung neuer stationärer Grenzkontrollen durch das Bundesinnenministerium (BMI) im Oktober 2023 wurde von ähnlichen Argumenten flankiert: laut Faeser seien sie notwendig, um die transportierten Menschen „zu schützen“ und Täter „zu verfolgen“. Ein genauerer Blick auf die rechtliche Lage und Verurteilungspraxis in Deutschland zeigt jedoch, dass hinter dieser Rhetorik altbekannte Muster stehen: Jenseits einzelner, medial hochstilisierter Fälle sind von Strafverfolgung vor allem jene betroffen, die für den Transport auf den letzten Metern sorgen. Die Kriminalisierten sind meist nicht nur das letzte Glied einer komplexen (Wertschöpfungs-)Kette (ähnlich den Sub-sub-sub-Dienstleistern auf der „last mile“ globaler Waren- und Logistikunternehmen), sondern handeln unter dem Druck der prekären Bedingungen, die ihnen von Kapitalismus und Grenzregime aufgezwungen werden.
Ohne legale und sichere Einreisewege lässt sich mit dem Transport illegalisierter Menschen viel Geld verdienen. Je drastischer die Abschottung, desto lukrativer das Geschäft – und desto größer die Gefahr von Ausbeutung und Gewalt, und zwar für alle Beteiligten. Wer es tatsächlich ernst meint mit dem Kampf gegen Schleusernetzwerke und dem Wohlergehen von Migrant:innen, muss die Grenzen öffnen.
Bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe
Die letzten Monate haben deutlich gemacht, dass Deutschland weiterhin in die entgegengesetzte Richtung steuert. Die Kontrollen an den deutschen Grenzen (zu Österreich seit 2015, seit 2023 auch zu Polen, Tschechien und der Schweiz) werden vom BMI wie selbstverständlich behandelt – auch wenn ihre Rechtmäßigkeit erheblich bezweifelt wird. Nur ausnahmsweise erlaubt das EU-Recht, Binnengrenzkontrollen für maximal sechs Monate „vorübergehend“ wieder einzuführen (Art. 25 ff. Schengener Grenzkodex). Eine Verlängerung unter Berufung auf denselben Grund widerspricht laut EUGH EU-Recht. Nichtsdestotrotz führt das BMI die immer gleichen Gründe an: Ziel der Kontrollen sei es, „Schleusungskriminalität zu bekämpfen und die irreguläre Migration zu begrenzen“.
Auch auf legislativer Ebene ist die „Schleusungsbekämpfung“ hoch im Kurs. Durch das sogenannte „Rückführungsverbesserungsgesetz“ (vom Bundestag verabschiedet im Februar 2024) haben die Regierungsparteien den Strafrahmen der „Hilfeleistung zur unerlaubten Einreise“ empfindlich erhöht. §96 des Aufenthaltsgesetzes kriminalisiert jede Handlung, die einer Person ohne notwendige Aufenthaltsdokumente die Einreise ins Bundesgebiet erleichtert. Voraussetzung ist, dass dies zugunsten mehrerer Personen oder aus Profitstreben geschieht. Strafrechtlich verfolgt werden neben Transportdiensten auch die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung oder Informationen über Reisewege. Die Ampel-Koalition begründete die Strafrahmenerhöhung mit der als besonders schwerwiegend erachteten „Sozialschädlichkeit des konkreten Schleusungsverhaltens“ sowie „mit Blick auf die Zunahme der Schleusungskriminalität“.
Auch wenn öffentlich vom „menschenverachtenden Geschäft der Schleusergruppen“ gesprochen und damit scheinbar das Wohlergehen der Migrant:innen hervorgehoben wird, machen die Verschärfungen deutlich, dass es um kaum mehr als die Intensivierung der rassistischen Abschottungspolitik geht. Für die Unterstützung bei der Einreise können nun bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe verhängt werden, selbst wenn keine Menschen gefährdet werden. Es gibt nur wenige Gesetze mit vergleichbarem Strafrahmen, bei denen keine Menschen gefährdet werden müssen: etwa die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation (§129a StGB), die Terrorismusfinanzierung (§89c StGB) oder die Vorbereitung schwerwiegender staatsgefährdender Gewalttaten (§89a StGB).
Diese Nähe zeigt, dass nicht der Schutz der Reisenden im Mittelpunkt steht, sondern die Bekämpfung von Migration. Da spielt es auch keine Rolle, dass Wissenschaftler:innen regelmäßig Zweifel an der Wirksamkeit solcher Maßnahmen äußern. Sie beeinflussen die Ursachen der Migration nicht und „Schleuser“ passen ihre Methoden an die neuen Gegebenheiten an oder erweitern ihr Angebot. Vielmehr macht die zunehmende Kriminalisierung grenzüberschreitender Transportdienstleistungen Flucht- und Migrationswege gefährlicher, da riskantere Routen eingeschlagen werden müssen.
Gesteigerter Bestrafungswille
Die Motive derjenigen, die wegen „Schleusung“ vor Gericht stehen, sind vielfältig. Handlungen ohne ausbeuterische Absichten spielen eine bedeutende Rolle. Während manche die Notlage von Migrant:innen ausnutzen und sie in Gefahr bringen, lassen sich viele entsprechend des Risikos entlohnen, das mit dem Transport von Personen ohne die notwendigen Papiere über Grenzen verbunden ist. Es ist naheliegend, dass jemand, der pro Passagier:in bezahlt wird und beispielsweise drei Personen sicher auf der Rückbank eines Fahrzeugs transportieren könnte, auch das Risiko eingeht, mehr Personen zu befördern, selbst wenn einige so keinen eigenen Sitzplatz haben oder sich nicht anschnallen können. Bei einer Kontrolle würde ohnehin ein Strafverfahren drohen.
Gleichzeitig führt die politisch aufgeladene Debatte zu unverhältnismäßig hohen Strafen für die wegen „Schleusung“ angeklagten Personen. Der öffentliche Diskurs und der gesteigerte staatliche Bestrafungswille spiegeln sich unmittelbar in den Urteilen der Richter:innen wider. Rechtsstaatliche Grundsätze werden dabei wiederholt über Bord geworfen. Am Amtsgericht Pirna beispielsweise wurde argumentiert, dass bei Freiheitsstrafen keine Bewährung mehr gewährt werde, da eine solche „zweite Chance“ das „Rechtsempfinden der Grenzbevölkerung“ störe.
In Griechenland oder Italien werden Migrant:innen oft selbst als „Schmuggler:innen“ für Handlungen angeklagt, die eigentlich Teil ihrer eigenen Reise sind. Nach ersten Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen und Angaben von Anwält:innen scheint dies in Deutschland bislang nicht der Fall zu sein. Dennoch gibt es viele Parallelen zu den dortigen Verfahren: Es gibt nur selten engagierte anwaltliche Verteidigung, Personen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit wird Fluchtgefahr unterstellt und dies zur Begründung von Untersuchungshaft herangezogen. Der Zugang zu zivilen Unterstützungsstrukturen ist begrenzt, Gerichtsurteile werden im Kontext eines migrationsfeindlichen Diskurses gefällt und das Gericht hört nach Aussage einer Richterin am Amtsgericht Pirna meist nur Staatsbedienstete wie Polizeibeamt:innen als Zeuginnen an, ohne die Sicht der Passagiere zu berücksichtigen. All dies führt dazu, dass die Angeklagten in vielen Fällen mit unverhältnismäßig hohen Strafen rechnen müssen.
Andere Antworten
Weder härtere Strafgesetze noch verstärkte Grenzkontrollen bieten eine Antwort auf die viel beschworene "Schleuserkriminalität". Auch helfen keine oberflächlichen Beileidsbekundungen von Politiker:innen, die die unmenschliche Behandlung der transportierten Personen bedauern. Um Menschen auf Flucht- und Migrationsrouten nicht noch mehr und oft tödlichen Gefahren auszusetzen, braucht es stattdessen eine Entmilitarisierung von Grenzübergängen, ausreichend sichere und legale Einreisewege sowie einen anderen Diskurs in Politik und Medien. Zuletzt: Während Menschen auf der Anklagebank sitzen, die als “Schleuser” eine untergeordnete Handlung für die Migration anderer leisten, bleiben die für die immer tödlicher werdende europäische Abschottungspolitik Verantwortlichen straffrei.
Karl Heyer ist Geograph und beschäftigt sich wissenschaftlich, aktivistisch und künstlerisch mit Grenzen und Migration. In seiner Doktorarbeit, gefördert u.a. durch das Beyond Borders Programm der Zeit-Stiftung Bucerius, erforscht er lokale Aushandlungen des Grenzregimes auf Sizilien vor dem Hintergrund rechtlich-räumlicher Fragmentierungen seit 2015.
Imke Behrends ist Volljuristin und Teil von de:criminalize und unterschiedlicher Gruppen, die gegen Grenzen, Abschiebungen und das zugrunde liegende kapitalistische, rassistische und (post-)koloniale System kämpfen. Mit dem Ziel vor Augen, dass Bewegungsfreiheit für alle gelten muss, setzt sie sich insbesondere gegen die Kriminalisierung von Migration ein. Zusammen mit anderen Aktivist:innen von borderline europe e.V. hat sie zahlreiche Verfahren gegen Personen begleitet, die wegen vermeintlicher „Schleuserei“ angeklagt wurden.
Mit dem Fonds für Bewegungsfreiheit unterstützen wir Menschen, die an den Rändern Europas unrechtmäßig in Gefängnissen sitzen oder sich verteidigen müssen. Wir finanzieren Prozess- und Anwaltskosten, unterstützen im Alltag und schaffen mit öffentlichen Kampagnen Aufmerksamkeit – weil Flucht kein Verbrechen ist. Helfen Sie uns dabei!