medico Aktiv

01.09.2003   Lesezeit: 6 min

Frieden hat zwei Seiten: Wut und Mut

Sierra Leone nach dem Krieg. Ein Interview der Deutschen Welle mit Anne Jung, geführt von Dirk Bathe am 11.08.2003

DW: Anne Jung von medico international ist erst vor wenigen Tagen aus Sierra Leone zurückgekehrt. Sie konnte ich fragen, wie das Land die Wunden des Krieges behandelt.

AJ: Die Nachkriegssituation in Sierra ist geprägt von der Wahrheits- und Versöhnungskommission und dem UN-Sondergericht, vor das eigentlich auch der liberianische Präsident Charles Taylor gestellt werden sollte. Die Menschen sprechen öffentlich über das Weiterleben nach dem Krieg. Allerdings können die unterschiedlichen Opfergruppen nur unzureichend versorgt werden, sie erhalten keine ausreichende psycho-soziale Betreuung. Die Zahl der Überlebenden der Gewalt ist riesig: 20 000 Menschen wurden während des Krieges bei Massakern der Rebellenarmee Revolutionary United Front (RUF) die Hände abgehackt, es gibt tausende ehemaliger Kindersoldaten und zahllose vergewaltigte Frauen.

DW: Sie sprachen die Versöhnungskommission bereits an, die nach südafrikanischem Vorbild geschaffen wurde. Funktioniert die Arbeit der Versöhnungskommission?

AJ: Offengestanden waren wir nach unserer Ankunft in Sierra Leone zunächst völlig schockiert. Die Täter, die vor der Kommission aussagten, wurden nicht ins Kreuzverhör genommen und haben sich rausgeredet. Sie waren Techniker, Fahrer oder Funker, sie beschrieben sich alle als Dienstleister des Krieges. Aber wir haben es nie erlebt, dass einer der ehemaligen Rebellenführer gesagt hat, ich war Täter, ich habe getötet.

DW: In Sierra Leone gibt es die Versöhnungskommission und zum anderen den Sondergerichtshof, der dann noch einmal für die strafrechtliche Verfolgung zuständig ist. Wie sind die beiden miteinander verwoben?

AJ: Formell sind sie gar nicht miteinander verwoben, aber in der Wahrnehmung der Täter schon. Das UN-Sondergericht hat für den Versöhnungsprozess eine große Bedeutung, weil man den wichtigsten Führern der Rebellenbewegung nicht einfach Amnestie gewähren kann. Viele Täter, die vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission aussagen, befürchten, dass sie – sollten sie die von ihnen begangenen Verbrechen eingestehen – zum UN-Sondergerichtshof überführt werden. Das erschwert die Arbeit der Versöhnungskommission sehr, zumal beide Orte auch räumlich sehr eng beieinander liegen. Es wäre in unseren Augen sinnvoll gewesen, beide Prozesse voneinander zu trennen.

DW: Alle Seiten, die in den Bürgerkrieg involviert gewesen sind, haben ihre Kampftruppen mit dem illegalen Handel von Diamanten finanziert. Wie sieht die Situation jetzt aus? Fließt das Geld aus dem Handel nun in die Staatskasse?

AJ: Noch immer bereichern sich neben internationalen Untenehmen auch viele Regierungsmitglieder an den Diamanten. Das ist auch der Grund dafür, warum alle Bemühungen um Transparenz im Diamantenhandel in Sierra Leone bislang nicht eingelöst wurden. Heute arbeiten Tausende von Kindern in den Diamantenminen und die Menschen schuften dort unter sklavenähnlichen Bedingungen. Von »Friedensdiamanten« kann also keine Rede sein.

DW: In Sierra Leone wurden 45 000 Rebellen entwaffnet, es gab freie Wahlen und das Land wird, wenn auch schleppend, wieder aufgebaut. Ist das eine Vorbildfunktion für das Nachbarland Liberia?

AJ: Möglicherweise. Der Prozess kommt allerdings auch in Sierra Leone nur mühsam in Gang, vor allem hinsichtlich der Versöhnungsarbeit. Ich denke, die ganze westafrikanische Küste bräuchte eine länderübergreifende Wahrheitsund Versöhnungskommission. Die Kriege in diesen Ländern haben sich immer gegenseitig befruchtet. Charles Taylor hat von Liberia aus mit seinen Waffenlieferungen an die sierra-leonische Rebellenbewegung diesen Krieg maßgeblich am Laufen gehalten. Der Diamantenhandel hat auch den Krieg in Liberia finanziert, er finanziert den Krieg in der Elfenbeinküste. Alle diese Länder sind hinsichtlich der ökonomischen Basis des Krieges und das direkte militärische Eingreifen ganz eng ineinander verwoben.

Die medico-Mitarbeiterinnen Anne Jung und Usche Merk waren im Juli 2003 gemeinsam mit Zandile Nhlengetwa von der medico-Partnerorganisation Sinani aus Südafrika in Sierra Leone und haben dort einen Workshop zu den Perspektiven psychosozialer Arbeit und dem langen Weg der Versöhnung durchgeführt. Dieser Süd-Südaustausch soll fortgeführt werden. Unterstützen Sie diese wichtige Arbeit unter dem Spendenstichwort »Sierra Leone«


Gemeinsam für Afrika 2003

Unter dem Motto »Gemeinsam für Afrika« haben sich 23 deutsche Hilfsorganisationen, darunter auch medico international, zusammengeschlossen, um gemeinsam mit dem Künstler Herbert Grönemeyer das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die andauernde Verelendung von Millionen Menschen auf dem afrikanischen Kontinent, aber auch auf seine Potentiale und Zeichen der Hoffnung zu lenken.

Zum Auftakt von bundesweiten Aktionstagen am 7. / 8. / 9. November wird Herbert Grönemeyer ein Benefizi-Konzert für »Gemeinsam für Afrika« in Oberhausen geben. Weitere Informationen unter www.gemeinsam-fuer-afrika.de. Über die Aktivitäten von medico in diesem Zusammenhang werden sie laufend in unserem newsletter oder auf unserer homepage informiert.


Zeichen paradoxer Hoffnung

Für November planen wir eine Rundreise mit unseren Projektpartner mit der Union of Palestian Medical Relief Committees (UPMRC) und den israelischen Physicians for Human Rights. Geplant sind u.a. die Städte Hamburg und Stuttgart. Die genauen Termine finden Sie unter www.medico.de oder im medico-newsletter (s.u.) Für die Opfer globaler Kriegstreiber AC Calamares International, Kickende Kurfürsten, Kalaschnikow Friedenspark – so heißen drei der 28 Mannschaften, die im Juni auf den Kölner Pollerwiesen gegeneinander antraten, um sich in kontrollierter Offensive für »die Opfer globaler Kriegstreiber und kommunaler Sparschweine« einzusetzen. Die Startgelder (50 € pro Team) und der Erlös aus dem Verkauf von Bier und Würstchen erbrachten rund 3000 €, die zur Hälfte an medico gingen.


Musik, Tanz und Zauberei

Was Schule im besten Sinne ist, führten die 5. Klasse der Freien Walddorfschule Offenburg und ihr Lehrer Michael Lauther den zahlreichen Gästen eines Benefiz-Abends zugunsten der Projektarbeit von medico vor. Musik, Tanz und Zauberei ergaben 2800 € für die Arbeit der Kurdish Health Foundation, den medico-Partner im Irak. Mit dem Krieg setzten sich die Schülerinnen und Schüler nicht nur an diesem Abend auseinander: über Wochen hinweg wurde diskutiert, wurde geprobt und am Programm gefeilt. Weitere Mitspieler wurden gefunden: ein Gitarrenduo, ein Tanzsportverein, eine Trommelgruppe und eine Bäckerei, in der Minen gebacken wurden – zum Verzehr.


11.09.2003 – 30 Jahre Putsch in Chile

Therapeutische Erfahrungen mit den Opfern politischer Gewalt. Vortrag und Diskussion mit Elisa Neumann (Santiago de Chile), 12. September, 16.00 Uhr, Migrationszentrum der evang. Kirche, Leerbachstr. 18, Frankfurt / Main (Nähe Opernplatz).
Eine Veranstaltung von FATRA, IPPNW, medico international und dem Psychosozialen Zentrum für ausländische Flüchtlinge.

30 Jahre nach dem folgenreichen Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung Allende wird uns die international bekannte Psychotraumatherapeutin über ihre jahrelange Arbeit mit den Betroffenen des Gewaltregimes berichten, und dabei Reflexionen über die sozialen Bedingungen dieser Arbeit zur Diskussion stellen. medico newsletter Abonnieren Sie unseren newsletter (einfach email schicken an info@medico.de), dann werden Sie regelmäßig über medico-Termine und Publikationen informiert. Gerne schicken wir Ihnen den newsletter auch per Post zu. Ein Anruf genügt. Tel. (069) 94 43 80.


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