Wenn Flüchtlinge an der Grenze stehen, scheint der demokratische Schein des gemeinsamen Europas zu verfliegen. Obgleich die Menschenrechte in Europa als unantastbar und universell gelten, werden sie doch an Grenzen jener Staaten, die zur Europäischen Union gehören oder eng mit ihr assoziiert sind, permanent missachtet oder Schutzsuchenden verweigert. Dass mit der erkämpften Freiheit auch die Flucht kommt, sehen wir in den täglichen Berichten über die nordafrikanischen Länder, die seit Beginn des Jahres Revolutionen, Aufstände und Bürgerkrieg erleben. Etwa auch in der Nacht zum 6. April ca. 60 Seemeilen vor der italienischen Insel Lampedusa. Hier kenterte ein Schiff mit bis zu 300 Flüchtlingen, das von Libyen aus in See gestochen war. Bis zu 250 Menschen ertranken, nur 48 Überlebende konnten von der Küstenwache gerettet werden. Das tödliche Ende dieses Flüchtlingsdramas auf See erschütterte auch die Politiker im Brüsseler EU-Parlament. Die Abgeordneten gedachten mit einer Schweigeminute der „Opfer der Einwanderung“. Ihre Gesetze zur Flüchtlingsabwehr änderten sie nicht: Viel mehr als zusätzliche Kontrollen des Meeres ist der EU bislang zu der anhaltenden Fluchtbewegung aus den EU-Anrainern in Nordafrika nicht eingefallen.
Was also können wir tun? Anfang März forderten medico international und Pro Asyl durch Anzeigen und mit einer Online-Aktion die deutsche Bundesregierung auf, angesichts der damals bereits absehbaren militärischen Eskalation in Libyen sich für eine „solidarische Aufnahme“ von Flüchtlingen aus Nordafrika einzusetzen. Tausende Menschen protestierten daraufhin mit einer persönlichen Email bei Angela Merkel. Aber hat es etwas geholfen? Das Gegenteil scheint der Fall zu sein, etwa wenn der hessische und bayrische Innenminister mit verschärften „Grenzkontrollen“ angesichts einer etwaigen Einreise tunesischer Flüchtlinge aus Italien drohen. Müssten nicht alle, die der aktuellen westlichen Militärintervention in Libyen aus moralischen Gründen zustimmen, im gleichen Atemzug eine „humanitäre Intervention“ im Mittelmeer zum Schutz der Flüchtlinge fordern? Hier braucht es kein „robustes Mandat“, sondern nur eine ausgestreckte Hand. Seit dem 1. Januar 2011 haben 26.000 Flüchtlinge, vor allem aus Tunesien und Libyen, die italienische Küste erreicht – etwa 650 Menschen sind auf dem Weg dorthin ertrunken.
Informieren Sie sich und diskutieren Sie mit auf dem Themennachmittag „Flucht und Migration“ im Haus am Dom am 21. Mai. Der italienische Journalist Gabriele del Grande, der seit Jahren zur Migrationproblematik im Mittelmeer publiziert, arbeitete bis zuletzt im befreiten libyschen Bengasi. Mit den MigrationsforscherInnen Prof. Sabine Hess und Bernd Kasparek verbindet medico eine bewährte Kooperation im akademisch-aktivistischen Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.