Fonds für Bewegungsfreiheit

Migration und Kriminalisierung

26.08.2024   Lesezeit: 7 min

Ein Blick auf die Reform des EU Facilitator’s Package. Von Sara Bellezza.

Am 28. November 2023 veröffentlichte die EU-Kommission einen Vorschlag für eine Reform des sogenannten Facilitator´s Package. Diese sieht den rechtlichen Rahmen für die Kriminalisierung von „Beihilfe zur Einreise, Transit und Aufenthalt“ von Personen vor, die keinen Zugang zum EU-Visa-Regime haben. Die Veröffentlichung wurde nicht zufällig bei einem Treffen in Brüssel bekannt gegeben, auf dem die Kommission auch zu einer Globalen Allianz gegen Schleuserei von migrierenden Personen aufrief. Zusätzlich kündigte die Kommission diesbezüglich eine neue Direktive für Europol an. Im „Kampf gegen Schleuserei“ soll Europol verstärkt mit anderen Agenturen wie Frontex und Drittstaaten außerhalb der EU zusammenarbeiten.

Mit den Änderungen, die die EU-Kommission in das neue Facilitator´s Package integriert hat, ist eine weitere Zunahme der massiven Kriminalisierung von Migration und Solidarität mit migrierenden Personen, sowie humanitärer Hilfe, zu erwarten.

Das ursprüngliche Facilitator´s Package wurde 2002 in EU-Recht integriert. Mitgliedsstaaten mussten dieses bis 2004 in nationales Recht übertragen, mit großem Ermessensspielraum, was unter anderem zu groben Differenzen im Strafmaß in den jeweiligen Mitgliedsstaaten führte. Seit der Einführung des Facilitator´s Package hat die EU in den letzten 20 Jahren zunehmend Menschen auf der Flucht, Solidarität mit Menschen auf der Flucht und humanitäre Hilfe mittels der Direktiven kriminalisiert. Das im Jahr 2000 implementierte UN Smuggling Protokoll legt fest, dass weder humanitäre Hilfe bei der Einreise oder einem Grenzübertritt kriminalisiert werden darf, noch Personen, die mit Hilfe von Schleuser:innen migrieren oder ihren Familienmitgliedern bei unautorisierter Migration helfen. Im ursprünglichen Facilitator´s Package ist diese Klausel nur als Möglichkeit integriert. Konkret heißt das, dass es den Mitgliedsstaaten überlassen wurde, Beihilfe zum unautorisierten Grenzübertritt und Aufenthalt auch aus humanitären oder familiären Gründen zu kriminalisieren. Eben diese Nische im EU-Recht hat es politisch möglich gemacht, Menschen als Schleuser:innen zu kriminalisieren, die auf unautorisierten Routen reisen müssen. Auch Seenotrettungsoperationen, medizinische Versorgung von Migrant:innen, und solidarischer Transport in Fahrzeugen auf Landwegen werden mit Bezugnahme auf das Facilitator´s Package kriminalisiert.

Der zivilgesellschaftliche Widerstand gegen diese Formen der Kriminalisierung ist möglich und wichtig und hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass viele Strafverfahren eingestellt wurden – allerdings erst nach jahrelangen Gerichtsprozessen, hohen Prozesskosten und massiver Öffentlichkeitsarbeit. Für diejenigen, die ohne europäischen Pass als Schleuser:in angeklagt wurden, oft nach Jahren des unberechtigten Freiheitsentzugs und nachdem sie massive Gewalt von staatlichen Behörden erleiden mussten.

Auch die EU-Kommission musste aufgrund der willkürlichen Verhaftungen, Anklagen und vor allem der Strafverfolgung von Praktiken der Solidarität, Stellung beziehen. Der Reformvorschlag der Kommission gibt unter anderem deshalb vor, klarere Definitionen der Straftat „Beihilfe zur illegalen Einreise, Transit, Aufenthalt“ festzulegen, sowie höhere Strafmaße und ebenso vermeintliche Ausschlusskriterien für die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe einzuführen. Rechtlich bindende Ausschlusskriterien gegen die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe sind im Reformvorschlag allerdings nicht zu finden. Stattdessen betont die Kommission, dass sie vor allem beabsichtigt „einer zunehmend organisierten Kriminalität“ entgegenzuwirken, die auf der Ausbeutung von vulnerablen Personen basiere und die Integrität des EU Grenzregimes bedrohe. Die EU trägt mit diesen Aussagen keine neuen Argumente vor. Tatsächlich zeigt sich im Reformvorschlag erneut, dass es sich beim Facilitator´s Package in erster Linie um eine Migrationsabwehrmaßnahme handelt, die keine Menschen schützt.

Der Straftatbestand

Ein detaillierter Blick auf den Reformschlag zeigt, dass die Kommission den Straftatbestand der Beihilfe zur unautorisierten Einreise nicht als organisierte Kriminalität definiert. In Artikel 3 des insgesamt 18 Artikel enthaltenden Vorschlags wird die Beihilfe zu Einreise, Transit oder Aufenthalt von Personen ohne Visa oder Aufenthaltstitel dann als Straftat definiert, wenn diese für einen materiellen oder finanziellen Profit stattfindet (Art. 3 (1) (a), wenn Personen mit erhöhter Gefahr zu rechnen haben (Art. 3 (1) (b)), oder wenn öffentlich zu „illegaler“ Migration oder Aufenthalt aufgerufen wird (Art. 3 (2)). Zusätzlich führt der Reformvorschlag unter Artikel 4 besonders schwere Tatbestände ein, u.a. wenn die “Beihilfe“ minderjährige Kinder beinhaltet (Art. 4 (d)), Personen zu grobem Schaden kommen (Art. 4 (b)) oder sterben (Art. 4 (c)). Aufgrund der Illlegalisierung von Migration kann diese fast nur noch auf gefährlichen und klandestinen Wegen stattfinden. Familien reisen in der Regel mit Kindern und auch unbegleitete minderjährige Personen müssen auf den gleichen unsicheren Wegen reisen. Auf Grundlage dieser Definitionen des Straftatbestands kann die EU weiterhin willkürliche Strafverfolgung durchführen und Personen als Schleuser:innen anklagen, die unentgeltlich ein Fluchtboot gesteuert haben, weil zum Beispiel Kinder an Bord waren oder die Reise lebensbedrohlich war.

Die Definition des Tatbestands lässt außerdem offen, was genau „finanzieller oder materieller Profit“ bedeutet. So könnte eine kostenpflichtige Rechtsberatung als Beihilfe zum unautorisierten Aufenthalt kriminalisiert werden. Wenn bei einer Seenotrettung eine Person ertrinkt, stellt sich die Frage, ob der Reformvorschlag genutzt werden könnte, um die Seenotrettung des schweren Tatbestands der „Beihilfe mit Todesfolge“ anzuklagen. Der neu eingeführte Straftatbestand des „öffentlichen Aufrufs zur unautorisierten Migration“ kann rechtlich missbraucht werden, um jegliche Form der freien Meinungsäußerung zu kriminalisieren, die sich für das Recht auf Bewegungsfreiheit einsetzt. Auch könnten Menschen auf der Flucht, Familienmitglieder und Freund:innen kriminalisiert werden, die öffentlich Informationen teilen, um die Fluchtrouten sicherer zu machen (zum Beispiel wo medizinische Hilfe zu erreichen ist, welche Notrufnummer gewählt werden muss, etc.).

Instrumentalisierung und Kriminalisierung juristischer Personen

Zwei weitere Neuerungen im Reformvorschlag heben die obskuren Verschränkungen von Rechtsnormen mit Abschottungsmaßnahmen hervor. Erstens taucht unter Artikel 9 der erschwerende Tatumstand „Ausbeutung oder Instrumentalisierung eines Drittstaatenangehörigen, der Opfer der Straftat war“ auf. In Einklang mit der „Instrumentalisierungsverordnung“, die im Frühjahr 2024 als Teil der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) verabschiedet wurde, will der Reformvorschlag eine Straftat einführen, die sich darauf bezieht, dass migrierende Personen als politisches Druckmittel benutzt werden könnten, um einen EU-Mitgliedsstaat zu erpressen. Bereits in der Instrumentalisierungsverordnung des GEAS wird deutlich, dass die EU auf eine vermeintliche „Instrumentalisierung“ mit Migrationsabwehrmaßnahmen reagieren würde, die schwere Menschenrechtsverletzungen zur Folge haben. Zweitens führt Artikel 7 des Reformvorschlags erstmals die Kriminalisierung von juristischen Personen ein. Während der Zusatz zur Instrumentalisierung vermutlich zur Kriminalisierung von Personen in der Migration missbraucht werden kann, sehen sich besonders humanitäre Organisationen, die zum Beispiel in der Seenotrettung aktiv sind, durch den Straftatbestand in Artikel 7 in ihrer Arbeit von weiteren Verwaltungssanktionen und strafrechtlicher Verfolgung bedroht.

Zusätzlich zu den politisch und rechtlich problematischen Elementen der Straftatbestände im Reformvorschlag und der neu eingeführten Artikel zur erweiterten Kriminalisierung von Beihilfe, ist durch die erweiterten Befugnisse von Europol zur „Bekämpfung der Schleuserei“ mit umfassenden europaweiten Polizeimaßnahmen in Bezug auf die Kriminalisierung von Migrant:innen zu rechnen, unter anderem durch massives Sammeln und Teilen persönlicher Daten in Polizeidatenbanken. Ganz nebenbei beinhaltet der Vorschlag, Europol könnte außerhalb der EU-Grenzen unter dem Deckmantel der „Schleuserbekämpfung“ extra-territorial operieren. Um sowohl polizeilicher Willkür als auch unverhältnismäßiger und kriminalisierender Strafverfolgung vorzubeugen, muss der Reformvorschlag unbedingt abgelehnt werden. Strategische Prozessführung, wie im Fall Kinsa, ist notwendig, um den politischen Machtmissbrauch von Rechtsnormen einzudämmen. Zusätzlich muss sowohl zivilgesellschaftlicher Druck von unten und parlamentarische Intervention innerhalb der EU dazu beitragen, dass die Verletzung von Grundrechten, wie der Schutz vor willkürlicher Strafverfolgung, Freiheitsentzug und Kriminalisierung, nicht weiter fortgesetzt werden können. Der einzig erfolgreiche Weg, Schleusung zu bekämpfen, ist und bleibt Bewegungsfreiheit für alle.

Sara Bellezza ist Anthropologin und arbeitet wissenschaftlich und aktivistisch zu Grenzregimen. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit beschäftigt sie sich ethnographisch mit Rechtskämpfen um die Abschaffung des Rechts auf Asyl an der US-Mexikanischen Grenze. Als Aktivistin bei borderline-europe- Menschenrechte ohne Grenzen e. V. hat sie unter anderem zur Kriminalisierung von Migration gearbeitet, Kämpfe um Bleiberecht unterstützt und sich gemeinsam mit einem größeren Netzwerk aus Seenotrettungsorganisationen, Flüchtlingsräten und Rechtshilfeorganisationen gegen Push-backs nach Libyen und für die Rechte von Personen im ‚Relocation‘ Verfahren eingesetzt.

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