»Ihr werdet die Früchte
nicht mehr am Geschmack
& auch an ihrer Form
nicht mehr erkennen.«
(Jean Anthelme Brillat-Savarin, »Physiologie des Geschmacks«, 1755-1826)
Nicht nur Individuen, sondern auch Staaten, gesellschaftliche Systeme und Epochen neigen zur Selbsttäuschung. Den Weltrekord in dieser Hinsicht hat das warenproduzierende System der Moderne aufgestellt, das sich selbst für den nicht mehr überbietbaren Gipfelpunkt der menschlichen Geschichte hält. Um die wirkliche Qualität einer Epoche beurteilen zu können, gibt es einen sehr einfachen Gradmesser. Das ist die Lage der Ernährung. Essen und Trinken geben am zuverlässigsten darüber Auskunft, wie es den Menschen wirklich ergangen ist. Denn auf diesem Gebiet zeigt eine Kultur ihre elementarsten Fähigkeiten zur Befriedigung der Bedürfnisse. Die Moderne sieht sich natürlich auch in der Geschichte der Ernährung an der Spitze des Fortschritts: Erst die wunderbare Marktwirtschaft habe die Probleme einer ausreichenden Versorgung mit Lebensmitteln und der Verbesserung ihrer Qualität zufriedenstellend gelöst. Dieses Bild ist ein Hohn auf die Realität. Ende der 70er Jahre haben der Wirtschaftshistoriker Immanuel Wallerstein & sein Team an der State University (New York)Studien zur Geschichte der agrarischen Produktion & der Ernährung mit dem Resultat vorgelegt: »Langfristig sinkt der Wohlstand des Weltsystems und der Gesamtheit der Arbeitskräfte der Erde – entgegen einer sehr verbreiteten Annahme steigt er nicht«. Diese Aussage, die der herrschenden marktwirtschaftlichen Ideologie ins Gesicht schlägt, ist gut belegt. Solche Behauptung erscheint dem herrschenden Bewußtsein nur deshalb als völlig unglaubwürdig, weil der offizielle Blick gleich dreifach beschränkt ist: Erstens auf den kurzen Zeitraum der weltweiten relativen Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg, zweitens auf die wenigen voll industrialisierten westlichen Länder und drittens auf die schmale gesellschaftliche Schicht der jeweiligen marktwirtschaftlichen Gewinner. Berücksichtigt man jedoch den gesamten Zeitraum der Modernisierungsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert, dann läßt sich leicht beweisen, daß die Moderne insgesamt den größten historischen Schub eines gesellschaftlich bedingten Mangels an menschenwürdigen Nahrungsmitteln hervorgebracht hat & darin sogar noch die orientalischen Despotien bei weitem übertrifft. Ganz offensichtlich ist die entfesselte Marktwirtschaft sogar dabei, am Ende des 20. Jahrhunderts die Restriktionen der Ernährung noch einmal dramatisch zu verschärfen und die globale Mehrheit von fast 6 Milliarden Menschen ständig oder zeitweise hungern zu lassen. Das ist keineswegs eine Übertreibung. Nachdem sich die weltweite Versorgung mit Lebensmitteln in den 6oer und 7oer Jahren vorübergehend ein wenig verbessert hatte, dehnen sich seit Ende der 8oer Jahre Hunger und Mangelernährung wieder aus. Nicht nur Afrika liefert immer neue Schreckensbilder. Das Gespenst des Hungers erscheint auch dort wieder, wo es für immer ausgetrieben schien. Bergarbeiter und ihre Familien in der Ukraine oder in Sibirien, Rentner in Moskau, Straßenkinder in ganz Osteuropa hungern heute ebenso wie große Teile der Bevölkerung in Lateinamerika oder Südasien. Weltweit sterben nach einem Bericht von UNICEF jedes Jahr mehr als 7 Millionen Kinder an Mangelernährung. Das größte neoliberale »Erfolgsmodell« ist inzwischen die globale Verallgemeinerung der Armenküche. Sogar in die industriellen westlichen Zentren ist der Hunger zurückgekehrt. Auch wenn mindestens ein Familienmitglied Arbeit hat, befinden sich heute in den USA aufgrund der buchstäblichen »Hungerlöhne« 30 Millionen Menschen in einer »unsicheren Nahrungsmittelsituation«, 26 Millionen davon sind jeden Monat auf öffentliche Speisungen oder private Lebensmittelgeschenke angewiesen, mehr als 4 Millionen Erwachsene hungern dauernd oder zeitweise, 11 Millionen Kinder sind unterernährt, in fast einer Million Haushalte gibt es oft tagelang nichts zu essen. Dabei handelt es sich nicht um Greuelpropaganda, sondern um Angaben des Landwirtschaftsministeriums der USA und von Wohltätigkeitsvereinen wie Second Harvest. Dabei ist die Produktivität in diesem Jahrhundert wesentlich schneller gestiegen als die Bevölkerungsentwicklung. Ginge es nur um die produktive Potenz, könnte leicht die doppelte Anzahl der heute lebenden Menschen reichlich & gut ernährt werden. Die gesellschaftliche Schranke der Produktion und Distribution von Nahrungsmitteln ist nicht durch mangelnde landwirtschaftliche Erträge im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung bestimmt, sondern durch die ökonomische Form des modernen warenproduzierenden Systems. Die Logik der betriebswirtschaftlichen Rentabilität erzwingt eine irrationale Restriktion der Ressourcen, die besonders kraß auf der elementaren Ebene der Ernährung in Erscheinung tritt. So erhalten die Menschen im Prinzip einen Zugang zu Lebensmitteln nur unter dem Vorbehalt, daß ihre Arbeitskraft rentabel vernutzt werden kann. Ist dieses Kriterium nicht erfüllbar, weil die »zu hohe« Produktivität ihre Arbeitskraft überflüssig gemacht hat, werden sie auf Hungerrationen gesetzt, obwohl die Kapazität der Erzeugung von Nahrungsmitteln gestiegen ist. Während für alle vormodernen Gesellschaften eine Rekordernte wenigstens zeitweiligen Überfluß für alle versprach, muß sie der betriebswirtschaftlichen Kalkulation des Agro-Business als Verhängnis erscheinen, weil durch das »Überangebot« die Preise gedrückt werden. Deshalb gehört es zum normalen marktwirtschaftlichen Geschäft, bei außergewöhnlich hohen naturalen Erträgen massenhaft landwirtschaftliche Produkte zu vernichten oder durch Denaturierung zu entsorgen. Der Hunger wird zum Produkt des Überflusses selbst. Dieselbe betriebswirtschaftliche Rationalität erzeugt aber nicht nur massenhaften Hunger, sondern sie drückt auch die Qualität der Nahrungsmittel. Auch diejenigen, die scheinbar genug zu essen haben, leiden Mangel an lebenswichtigen Stoffen. Denn die Logik der Kostensenkung führt dazu, daß die Nahrungsmittelindustrie ihren äußerlich schillernden Produkten wesentliche Inhalte entzieht, um sie reibungslos verwertbar zu machen. Die großen Konzerne der Lebensmittelproduktion ebenso wie die mittelständischen Anbieter lassen keine Unappetitlichkeit aus, um den betriebswirtschaftlichen Gewinn zu maximieren und die Konsumenten zu täuschen. Zartrosa Shrimps in der Tiefkühltruhe bestehen oft nicht aus Krebsfleisch, sondern aus billigen Fleischabfällen, die mit Farbstoff getarnt und in die Form von Shrimps gepreßt wurden. In Italien fand man krebserregende Stoffe in Nudeln, die von Verpackungsmaterialien herrühren. Die Hälfte der Hühner, die in der Europäischen Union verkauft werden, ist bakteriell verseucht. Generell steigt die Zahl der von denaturierten Lebensmittel verursachten Krankheiten und Seuchen. Aber selbst wenn die Bestandteile der Nahrung nicht direkt giftig oder gesundheitsschädlich sind, sinkt ihre Qualität beständig. Das beginnt schon mit dem Verfall der Geschmacksvielfalt, weil die transkontinentale Distribution nur noch ein ganz schmales Spektrum von Einheits-Produkten zuläßt, die geradezu nach Verpackungsnormen gezüchtet werden. Tausende von Sorten bei Obst und Gemüse, Hunderte Rassen von Nutztieren sterben aus, weil sie vom Standpunkt des abstrakten Kostenkalküls »überflüssig« sind. Mit gesetzlicher Billigung werden immer mehr agrarische Rohstoffe durch neue Technologien zerlegt, um dann mit Zusatzstoffen angereichert, gefärbt und konserviert zu werden. Bier kann pulverisierte Tierhufe und Schokolade getrocknetes Blut enthalten. Mit synthetischen »Geschmacksbausteinen« lassen sich Lebensmittel viel billiger herstellen als mit realen Früchten: Denaturierte und geschmacklose Biomassen werden mit Aromastoffen »geimpft«. Der kapitalistische Mensch soll auch noch von seiner Fähigkeit des Schmeckens enteignet werden. Wenig tröstlich ist, daß auch die funktionalistisch zugerichteten Eliten großenteils selber an der Verelendung der Eßgewohnheiten teilnehmen. Es sind postmoderne Manager, die das Essen im Gehen (»Food on the run«) und das Frühstück im Auto (»Food on the ride«) als Mode kreieren. Und sie nehmen dabei Stoffe zu sich, die ein mittelalterlicher Bauer nicht einmal seinen Schweinen gegeben hätte. Wer wollte da noch zweifeln, daß uns die Marktwirtschaft zum glorreichen »Ende der Geschichte« geführt hat?
Robert Kurz