Nach 10 Jahren zum ersten Mal wieder in Nicaragua, nun als Projektkoordinator von medico international vor Ort – ein erster Erfahrungsbericht von Dieter Müller.
Nach 10 Jahren komme ich im Januar 2008 zum ersten Mal wieder nach Nicaragua. Aber dieses Mal nicht auf Projektbesuch, sondern um zu bleiben. Ich arbeite nun von Managua aus als Repräsentant von medico international für Zentralamerika. Nach 10 Jahren stelle ich fest, dass sich hier vieles, nicht nur mein Arbeitsgebiet, verändert hat.
Von Frankfurt aus habe ich als medico-Koordinator die nicaraguanischen medico-Projekte, die Wiederansiedlung von Überlebenden des Hurrikan Mitch in El Tanque und die Gemeinwesenarbeit mit ehemals landlosen Plantagenarbeitern in La Palmerita verfolgt. Ich kenne die Erfolge und Schwierigkeiten, aber eben nur aus der Ferne und bislang als Unbeteiligter.
In Nicaragua angekommen, ändert sich das schlagartig. Es gibt für mich keine Schonfrist. Anfang Januar, anlässlich der ersten Koordinationssitzung mit unseren Projektpartnerinnen von der Frauenbewegung MEC (Movimiento de Mujeres María Eléna Cuadra) und den Vertretern aus La Palmerita, geht es gleich zur Sache. Eine Bestandaufnahme steht an. Wie war das vergangene Jahr, wie geht es den Menschen in La Palmerita, wo steht das Projekt? Von Seiten der Palmeriteños werden dabei die negativen Aspekte hervorgehoben. Sie sprechen von Dingen, die fehlen, beklagen Maßnahmen, die in ihren Augen nicht gut gelaufen sind.
Lydia, Lehrerin und Gemeindeaktivistin des Weilers El Terrero 1 bis 4, der unmittelbaren Nachbarn von La Palmerita, arbeitet im Rahmen des Projekts als Lehrerin für Erwachsenenbildung. Sie nimmt auch an dem Gespräch teil. Sie hat eine ganz andere Wahrnehmung. Und sie kennt das Projekt von Anfang an. Damals, sagt Lydia, habe es in den umliegenden Gemeinden viel Misstrauen gegen die Palmeriteños gegeben. Jeder Vorfall wurde ihnen zur Last gelegt. Man beargwöhnte sie als Fremdkörper. In der Schule, die die Kinder der benachbarten Dörfer gemeinsam besuchen, gab es heftige Auseinandersetzungen. Die Kinder aus La Palmerita wurden als verlauste Bengel beschimpft. Und das sei noch einer der harmloseren Ausdrücke gewesen. Es kam sogar zu Handgreiflichkeiten unter den Kindern.
Lydia erinnert die Nachbarn aus Palmerita an die Veränderungen, die inzwischen stattgefunden haben. So gab es ein gemeinsames Schulprojekt, um die Vorurteile zu bearbeiten. In der vergangenen Woche fand ein gemeinsames Kinderfest zur Einweihung des neuen Rancho in La Palmerita statt, bei dem die Kinder zusammen gespielt und getanzt haben. Es sind Freundschaften entstanden, einer aus Terrero ist mit einer Palmeriteña verheiratet. „Wenn ich euch so reden höre, habe ich das Gefühl, dass ihr gar nicht wisst, was ihr inzwischen erreicht habt. Ich kann euch sagen, dass wir manchmal neidisch sind. Ihr habt inzwischen Häuser und Brunnen, ihr habt Zugang zu Krediten für die landwirtschaftliche Produktion, ihr habt Bäume bekommen und vieles mehr. Was für eine Veränderung, wenn man daran denkt, dass ihr noch vor 3 Jahren unter Plastikplanen gehaust habt.“
Dagegen scheinen viele Palmeriteños wie festgefroren in ihrem „Wir-sind-arm-Lamento“. Mich überrascht die Energie, die sie entfalten können, wenn es um Gerüchte und interne Zwistigkeiten geht. Eine Energie, die doch dringend nötig wäre, um eigene Vorhaben zu realisieren.
Wie schwer es vielen in Palmerita fällt, ihre bisherigen Lebensgewohnheiten zu verlassen, zeigt das Beispiel eines Siedlers, der kürzlich dem Agraringenieur des Projektes mitteilte, dass der ihn nun doch beraten dürfe. Das war seine Begründung: „Ich habe dir ja immer gesagt, dass u mir nicht auf meine Parzelle kommst. Ja, Mann, aber jetzt habe ich meine Entscheidung geändert. Meine Nachbarn haben mir immer zugeredet, ich solle mir bloß nicht von den Projektleuten reinreden lassen. Aber jetzt sehe ich dich immer wieder auf deren Parzellen. Sie reden ja doch mit dir über den Anbau von Gemüse und lassen sich von dir beraten. Mir sagen sie das eine und machen selbst genau das Gegenteil. Also, du bist herzlich willkommen und ich möchte unbedingt mehr anbauen, um meine Familie voranzubringen, also ich erwarte dich.“ Der Agraringenieur hat ihm seine Hilfe zugesagt. Er weiß, wie schwierig es ist, die Herzen und die Köpfe der Leute zu erreichen.
Mein Vorgänger Walter Schütz und ich sitzen zusammen und machen uns Gedanken über das verbreitete Frustrationsgefühl in La Palmertia, das sich paart mit Neid auf die Leute, die auf dem besten Weg sind, erfolgreich den Wechsel vom Tagelöhner zum Kleinbauern zu meistern. Was steckt wirklich dahinter? Warum fällt es so schwer, anderen ihren kleinen Erfolg zu gönnen? Walter berichtet mir von seiner Erfahrung. Noch im vergangenen Jahr hatten die MECs und er gemeinsam über die wechselhafte Stimmung nachgedacht. Dabei stellten sie fest, dass es die „Positiven“, die „Angekommenen“ gibt. Sie sind entschlossen, die Mühsal des Umlernens auf sich zu nehmen, sich auf das unbekannte Leben eines Kleinbauern einzulassen. Nun ernten sie die ersten Erfolge, die am Anfang ihres Weges nicht sichtbar waren. Diese zunächst fehlenden sichtbaren Ergebnisse schienen den „Unentschlossenen“ Argumente zu liefern. Diese sind unsicher, ob sie überhaupt in Palmerita bleiben wollen, würden am liebsten ihren kleinen Besitz verkaufen und wieder auf Wanderarbeit gehen. Es hindert sie die Tatsache, dass sie bislang keine Landtitel besitzen und selbst wenn, erst nach 10 Jahren verkaufen dürfen. Es bleibt Zeit, sie zu beraten und einzubeziehen. Aber so existiert in Palmerita unter den Bewohnern eine große Kluft zwischen unterschiedlichen Interessen. Die einen haben eine langfristige Perspektive für sich und ihre Kinder und Interesse an einem gelingenden Gemeinwesen. Die anderen erhoffen sich, so wie sie es ihr Leben lang gelernt haben, einen kleinen schnellen Vorteil – ein Überleben bis zum nächsten Tag, mehr nicht.
Trotz der Schwierigkeit, die uns schon bei Projektbeginn klar war und die den Erfolg des Projekts nicht berechenbarer macht, haben wir uns nicht nur entschlossen, dies anzugehen, sondern rechnen nun auch mit der finanziellen Förderung des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Trotzdem sind die Normvorgaben einer für effizient gehaltenen Projektarbeit nicht immer kompatibel mit den Freiräumen und Zeitspannen, die eigentlich für einen so komplexen Prozess der Gemeindeentwicklung nötig sind. Dieser kann nicht gelingen, indem man stereotyp Erfolgsrezepte aus anderen Zusammenhängen umsetzt. La Palmerita ist nicht El Tanque, auch wenn viele wertvolle Erfahrungen aus El Tanque in die Arbeit einfließen. Wie sagte doch kürzlich ein Vertreter des nicaraguanischen Netzwerks für Salud Comunitaria: „Die Milleniumsziele sind Teil des Fußbodens, sind Ausgangspunkt, aber nie und nimmer das Dach, das Ziel, die Utopie, die es zu erreichen gilt.“ Der Diskurs der Armutsbekämpfung, propagiert von den Entwicklungsbürokratien, weckt ein müdes Lächeln, wenn man in der weiten Ebene hinter dem Momotombo-Vulkan in La Palmerita steht.
Mir wird schnell klar, dass man sich von dem Lamento nicht beeindrucken lassen darf. Es ist unbedingt nötig, auf die positiven Ansätze zu bauen. Bei der letzten Koordinationssitzung wurde auch der erste abgeschlossene Agrarzyklus ausgewertet. Siehe da, plötzlich stellten die Versammelten fest, dass sich das Ergebnis sehen lassen kann. Trotz der über 50 Tage Regen, der die Sorgho-Ernte fast zerstört hätte. Vielen Familien ist es gelungen, sich ein kleines Einkommen durch den Gemüseanbau zu verschaffen, der dank der Wasserbrunnen mit den Seilpumpen, finanziert von der Stiftung „Wasser für die Welt“, deutlich verbessert werden konnte. Pablo schwärmt von seinem Jamaica-Tee-Anbau, den er erweitern will, weil die Preise gut sind und eine Nachfrage für den Export besteht.
Ich lerne aber auch sehr schnell, dass man sich nichts vormachen darf, dass noch viel zu tun ist, damit die Palmeriteños in Würde leben können und nicht nur gerade mal überleben. Bald werden die Ernteeinnahmen oder die Einnahmen jener, die wieder als Saisonarbeiter zur Kaffeeernte in den Norden Nicaraguas gezogen sind, aufgebraucht sein. Doch auch hier gibt es Lichtblicke. Einige der Familien, die als Saisonarbeiter unterwegs waren, haben dieses Mal das Ende des Schuljahres abgewartet und ihre Kinder nicht einfach aus der Schule genommen, wie sonst. Viele sind nun wieder zurück in La Palmerita und ihre Kinder beginnen das neue Schuljahr.
Und wenn bei aller Aufregung Ruhe eingekehrt ist und man sich eigentlich zurücklehnen könnte und auf einen positiven Verlauf des Ansiedlungsprojektes vertrauen möchte, kommen neue Nachrichten. Zur Abwechslung stehen Ex-Contras auf den Ländereien von Palmerita, reklamieren das Land und beginnen schon, es zu vermessen. Gut, dass wir die Erfahrung von El Tanque haben und wissen, dass dies nur die normalen Widrigkeiten sind, die ein solches Projekt nun mal begleiten. El Tanque ist trotzdem ein sicherer Ort für seine 1.000 Bewohner geworden. Dasselbe wollen wir für Palmerita erreichen.
Projektstichwort
Seit Herbst 2006 führt medico international gemeinsam mit nicaraguanischen Partnern das Gemeindeentwicklungsprojekt im nicaraguanischen Palmerita durch. 153 Familien, Saisonarbeiter der Kaffeeernte, die ihre Existenzgrundlage durch die Kaffee-Krise verloren haben, sind die Begünstigten. Die „Jornaleros“ hatten in einem Hungermarsch auf Managua auf ihre extreme Armut aufmerksam gemacht. Nun wollen sie in Palmerita zu Kleinbauern werden. Spenden Sie für diese Arbeit unter dem Stichwort: Nicaragua