Rückblick und Ausblick auf 30 Jahre sandinistische Befreiung und 30 Jahre medico-Arbeit in Nicaragua. Von Dieter Müller.
Daisy Zamora, Poetin und stellvertretende Kulturministerin in der ersten sandinistischen Regierung nach dem Sturz des Diktators Somoza, sprach damals aus, wofür viele in der Welt die Revolution in Nicaragua bewunderten: "Der revolutionäre Triumph", so die Dichterin, "ist ein kultureller Sieg. Nicaragua braucht ein neues Konzept und eine neue Praxis der Kultur. Diese muss die Interessen, die Ideale und Hoffnungen der Menschen berücksichtigen und andererseits sie selbst zu Autoren, Konsumenten und Protagonisten dieses Konzepts machen." Im Rückblick erinnert sich die Dichterin an die intensive Arbeit im Kulturministerium, in dem man nicht nur über die Alphabetisierung der Bevölkerung nachdachte, sondern auch darüber, wie überall im Land Poesie-Werkstätten geschaffen werden könnten. "Wir wollten wirklich den Menschen dienen. Es ging uns nicht um Macht an sich. Unser Traum war es, das kreative Potential der Menschen zu fördern, sodass jeder selbst Protagonist und Schöpfer von Kultur sein könnte." Gerade dieser basisdemokratische Anspruch, dieses Streben nach Selbstverwaltung in allen Bereichen der Gesellschaft machte das sandinistische Projekt weltweit so anziehend. Am 19. Juli jährt sich zum 30. Mal der Tag, da die sandinistische Befreiungsbewegung in Managua einzog. Eine Guerilla aus jungen Leuten, die aus den Universitäten, aber auch aus einfachen Bauernfamilien stammten und die gemeinsam gegen eine der ältesten und abscheulichsten Diktaturen Lateinamerikas gekämpft hatten. Der Sieg der Sandinistischen Befreiungsbewegung (FSLN) setzte vor drei Jahrzehnten einen Prozess tiefgreifender, radikaler gesellschaftlicher Veränderungen in Gang, insbesondere im Gesundheits- und Erziehungswesen und in den Besitzverhältnissen auf dem Land.
Was bleibt?
30 Jahre sandinistische Revolution in Nicaragua
Als am 19. Juli 1979 blutjunge Guerilla-Kämpfer in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua einzogen, da schlugen nicht nur in Mittelamerika die Herzen höher. Das sandinistische Projekt schien die Ideen von Partizipation, Basisdemokratie, von einem anderen Leben jenseits von Profitgier und Konkurrenz zu verkörpern. Die Solidarität der "Aussteiger", der sozialen Bewegungen in vielen Ländern der Welt war den Sandinisten sicher. Medico war Teil dieser Bewegung. Wir nehmen die 30 Jahre zum Anlass über das, was war, und das, was wir heute in Nicaragua unterstützen, zu reflektieren. Ausgangspunkt sind Auszüge aus einem Vortrag von Dieter Müller, dem medico-Regionalvertreter in Mittelamerika, über die medico-Arbeit in diesen 30 Jahren. Wir beschreiben ein neues Projekt, das medico fördert und das, kurz auf den Punkt gebracht, eine politische Organisationsentwicklung für soziale Transformation betreibt und dabei die Akteure stärkt, die in Nicaragua nach wie vor für Emanzipation stehen. Ausführlich widmen wir uns dem Wiederansiedlungsprojekt in Palmerita, ein fragiles Unterfangen mit Menschen, die zu den Ärmsten der Armen zählen. Das sich aber auszahlt, wenn man begreift, dass man den Teufelskreis der Armut nur überwinden kann, wenn man einen langen Atem hat und in Generationen denkt. Für all diese Arbeiten bitten wir Sie um Unterstützung. Spenden können Sie unter dem Stichwort: Nicaragua.Medico war von Beginn an Teil einer weltweiten Solidaritätsbewegung, die nach dem Sturz der linken Allende-Regierung in Chile und der Machtübernahme weiterer Militärdiktaturen in Südamerika in Mittelamerika neue Hoffnung auf die Möglichkeit einer basisdemokratisch organisierten Befreiung schöpfte. Eine Kernaussage der Sandinisten war "Gesundheit ist Revolution". Die Ideen von "Gesundheit für alle", die im Jahr zuvor mit dem Konzept der Basisgesundheitsversorgung in Alma Ata von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt worden waren, sollten nun in Nicaragua konkrete Politik werden. Die neue Gesundheitspolitik ging weit über eine medizinische Grundversorgung hinaus - ganz entsprechend der Überlegungen von Alma Ata. Sie nahm das umfassende physische, psychische und soziale Wohlbefinden zum Ausgangspunkt ihres Gesundheitsverständnisses. Die Krankenversicherung, die ohnehin nur einen geringen Teil der Bevölkerung abdeckte, wurde abgeschafft und durch ein "Einheitliches Nationales Gesundheitssystem" ersetzt, das allen das "Recht auf Gesundheit" gewähren sollte. Damit wurde Nicaragua von der WHO zum Modell-Land erklärt. Welch ein Aufbruch für Ziele, für die medico noch heute streitet!
Dank der enormen Solidarität in der Bundesrepublik konnte medico einen wichtigen Beitrag im Gesundheitsbereich leisten. Unter anderem den Aufbau der kompletten Gesundheitsinfrastruktur in der ärmsten Region des Landes, der Provinz Rio San Juan. Die Gesundheitsinfrastruktur existiert nach wie vor und hat sich weiterentwickelt (siehe dazu auch den Film "Salud es Revolución" mit Walter Schütz).
Sehr schnell wurde Nicaragua aber eine neue Front aufgezwungen: die Verteidigung gegen die militärische Aggression der Reagan-Administration, inszeniert über die "Contra", die Konterrevolution. Erneut wurde Gewalt zu einem prägenden gesellschaftlichen Faktor, die militärische Gewalt und die Gewalt der wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen. Über 30.000 Menschen starben im Krieg gegen die Contra, die ohnehin schwache Volkswirtschaft wurde stranguliert. Kriegsmüdigkeit und Mangelwirtschaft sind die meistgenannten Ursachen dafür, dass die sandinistische Befreiungsfront die Wahlen 1990 verlor. Doch bereits in den 80er-Jahren verschwand die Idee der Basisdemokratie zusehends hinter einer pseudolinken Phraseologie. Aus einer im Entstehen begriffenen Selbstverwaltungskultur wurde eine von oben angeordnete Planung. Nach der Niederlage der Sandinisten 1990 folgten 17 Jahre neoliberaler Regierungen. Einer der traurigen Höhepunkte dieser Zeit: die Unterschlagung von Hilfsgeldern in Millionenhöhe während des Hurrikan Mitch 1998 durch den damaligen Regierungschef Arnoldo Alemán. Nicaragua entwickelte sich im entfesselten Neoliberalismus zu einem Paradies für Selbstbereicherung durch Eliten des Landes. Juristisch belangt wurde dafür so gut wie niemand. Möglich war das auch, weil 1998 der damalige liberale Präsident Alemán mit dem Sandinisten-Führer Ortega ein Stillhalteabkommen schloss, um die eigene Strafverfolgung zu verhindern und die politische Landschaft Nicaraguas zu kontrollieren. Der Pakt wurde erst kürzlich wieder erneuert, um hinsichtlich der nächsten Wahlen 2011 die unliebsame Konkurrenz in beiden Lagern auszuschalten.
Wer diese unschönen Details nicaraguanischer Politik, die abseits des großen Weltgeschehens wie eine Provinzposse verläuft, nicht verfolgt, konnte Ende 2008 nach dem Sieg der FSLN bei den letzten Präsidentschaftswahlen noch Hoffnungen hegen. Die zweijährige Praxis der Ortega-Regierung hat diese Erwartungen nicht bestätigt, wenngleich der kostenfreie Zugang zu Gesundheit und Erziehung, sowie verschiedene Sozialprogramme eingeführt wurden und eine erneute Alphabetisierungskampagne begonnen wurde. Doch es kommt keine neue Begeisterung auf. Die Revolutionsrhetorik der Sandinisten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nicaragua autoritär regiert wird.
Wie lässt sich der autoritäre Führungsstil erklären, was ist aus Daniel Ortega, der FSLN, dem Sandinismus, der emanzipatorischen Erfahrung geworden? Die meisten Analysen beginnen mit der Wahlniederlage der FSLN bei den Präsidentschaftswahlen von 1990. Ihr folgte die "Piñata" (eigentlich eine mit Süßigkeiten gefüllte Pappmaché-Puppe, auf die die Kinder so lange einschlagen, bis die Leckereien herausfallen). Gemeint ist damit die Aneignung von Staatsbesitz durch die sandinistische Partei und viele ihrer Funktionäre. López Vigil, Schriftstellerin und Chefredakteurin von Envío, der renommierten Monatszeitschrift der Jesuitenuniversität UCA, nannte das einen "ethischen Harakiri" der FSLN.
Man sollte mit den Erklärungsversuchen früher beginnen. Die sandinistische Befreiungsbewegung hatte vor 1979 jahrelang im Untergrund agiert. Sie war, wie andere Bewegungen der Nationalen Befreiung auch, notwendigerweise eine politischmilitärische Kaderorganisation, keine basisdemokratische Vereinigung, somit im Kern autoritär strukturiert. Der von außen aufgezwungene Contra-Krieg stärkte diese Logik rasch wieder und verankerte sie auch bei vielen, die nicht unmittelbar am Befreiungskampf beteiligt waren. Hinzu kommt, dass die nicaraguanische Gesellschaft selbst über Jahrhunderte extrem autoritär geprägt war: Patriarchale Strukturen, semifeudalistische Systeme, die konservativen und liberalen Caudillos, externe Interventionen und eine über die Maßen einflussreiche Kirche hatten eine autoritäre Gesellschaft in Zement gegossen, noch dazu unter Berufung auf göttliche Vorsehung. Unter dem wachsenden Einfluss der USA wandelte sich das in eine Form von "resignierendem Pragmatismus", der, so der nicaraguanische Soziologe Pérez Baltodano, nichts anderes sei als die säkularisierte Form der Vorsehung. Politik und Wirtschaft, aber auch Familie und Erziehung haben dies bis heute perpetuiert.
Das revolutionäre Intermezzo hat gewiss viel bewegt. Eine gesamte Gesellschaft in "neue Menschen" zu transformieren war Teil des utopischen Gedankens, der der nicaraguanischen Revolution so viel Zuspruch verschaffte. 10 Jahre waren jedoch eine viel zu kurze Zeit, um eine derartige Veränderung zu bewirken. Es gibt viele Menschen, für die der Widerstand gegen die Somoza-Diktatur, der Sieg der Revolution und die anschließenden Prozesse zugunsten der Armen und Ausgeschlossenen prägend waren. Sie nahmen die Ankündigung der Sandinisten nach den verlorenen Wahlen 1990 ernst: man werde ab jetzt von unten regieren. Mit ihnen solidarisierte sich medico. Sie bemühten sich, emanzipatorische Prozesse zu befördern, obwohl die große revolutionäre "Klammer" fehlte.
Vertreterinnen der Frauenbewegung gehörten zu den Ersten, die bereits gegen Ende der 80er-Jahre erkannten, dass sich ihre "Selbstbefreiung" ohne eine "Befreiung" von Regierung und Partei nicht ereignen würde. Nach 1990 waren einige von ihnen unsere Partnerinnen in ihrem Kampf um autonome Räume, etwa Frauen- und Geburtshäuser, auch in entlegenen Regionen. Es ging ihnen um konkrete, praktische Angebote für Frauen, angesichts des Abbaus und der Privatisierung der zuvor freien öffentlichen Gesundheitsversorgung, aber auch darum, am politischen Prinzip eines umfassenden Rechts auf Gesundheit festzuhalten. Die in sich vielfältige Frauenbewegung spielt bis heute eine zentrale Rolle in den Bemühungen um Emanzipation. Dabei sieht sie sich gleichermaßen Angriffen durch neoliberale Politiken wie von der Ortega-Regierung ausgesetzt. So reagierten die sandinistische Partei und Regierung mit extremer Härte auf den Widerstand der Frauenbewegung gegen das jüngste Verbot der therapeutischen Schwangerschaftsunterbrechung.
Der Hurrikan Mitch im Jahr 1998 war eine neue Zäsur. Medico unternahm gemeinsam mit den Betroffenen des Erdrutsches am Vulkan Casitas den Versuch, einen ganzheitlichen Gesundheitsansatz zu realisieren. In El Tanque entstand mit unserer Unterstützung ein Dorf komplett neu. Dieser Versuch gelang, weil die Initiative von den Menschen selber ausging. Statt fatalistisch auf milde Gaben zu warten, besetzten sie eine Finca und suchten aktiv um Unterstützung. Medico sagte zu.
Der Erfolg von El Tanque beruhte nicht zuletzt darauf, dass viele von ihnen gestandene Bauernführer waren, die im Widerstand gegen Somoza groß geworden waren und ihre Parzellen im Rahmen der sandinistischen Agrarreform erhalten hatten.
Die ehemalige Gesundheitsministerin und medico-Partnerin, Dora María Tellez, sagte vor einigen Jahren in einem Interview: "Ich glaube nicht, dass die Revolution verloren ging. Sie war erfolgreich. Je mehr Zeit vergeht, desto überzeugter bin ich davon. In den Köpfen der Nicaraguaner wurde verankert, dass sie Rechte haben: Menschenrechte, politische und soziale Rechte." Das zeichnet Nicaragua auch weiterhin aus und macht einen deutlichen Unterschied zur Situation in anderen Ländern Mittelamerikas. Die Solidaritätsarbeit von medico kann an diese Erfahrung anknüpfen. Denn Befreiung und Emanzipation sind in Nicaragua nach wie vor für viele Menschen gültige Werte und Kriterien von Identität und Zugehörigkeit. Gleichwohl sind viele von ihnen auch Überlebende. Unzählige ihrer Mitstreiter und Wegbegleiterinnen fanden bei der Verteidigung dieses politischen Projektes den Tod. Auch wenn die Revolution selbst "gestorben" ist, im Kleinen existiert sie vielerorts weiter.