Zugang zu existierenden Sozialversicherungen haben im globalen Süden meist nur Staatsangestellte und ArbeiterInnen mit formalen Arbeitsverhältnissen. Die Weltgesundheitsorganisation und das International Labor Office (ILO 2007) schätzen die Zahl der Menschen, die jährlich durch Krankheitskosten verarmen, auf mindestens 100 Millionen. Dies ist auch Resultat marktideologischer Forderungen nach einem Rückbau staatlicher Versorgung: Die öffentliche Finanzierung sozialer Dienste, insbesondere Gesundheit und Bildung, wurden zugunsten von Schuldendienst, Haushaltsdisziplin und Exportorientierung in den meisten Entwicklungsländern drastisch zurückgefahren. Seither ist die Krankenbehandlung weithin nur über »Nutzergebühren« verfügbar: Medikamente, Laboruntersuchungen und andere Sachmittel müssen oftmals aus der eigenen Tasche – »out of pocket« – gezahlt werden. Die verheerenden Folgen der privaten Kosten für Behandlungen im Krankheitsfall, besonders für Arme in allen Ländern des globalen Südens, sind inzwischen auf die Tagesordnung der globalen Institutionen gerückt.
Als Ersatz für den Wegfall staatlicher Absicherungsmodelle werden zunehmend so genannte Mikroversicherungen als Weg zu einer Gesundheitsversorgung für alle entworfen. Immer öfter gelten Initiativen der Mikro- oder Community-Versicherungen im Gesundheitsbereich als viel versprechend, um soziale Sicherungen im Krankheitsfall auch denjenigen zu ermöglichen, die an den Versicherungskosten oder Behandlungskosten aufgrund ihrer ökonomischen Informalität bisher scheiterten. Dabei schließen Mikroversicherungen an die Begeisterung für Mikrokredite als Strategien des Social Business an. Solche »pragmatischen Strategien« sind weltweit beliebt – spätestens seit dem Friedensnobelpreis 2006 für deren Erfinder Muhammad Yunus aus Bangladesch – da sie die Hoffnung auf eine gerechtere Welt nicht mehr in gesellschaftlichem Wandel oder gar in Umstürzen sehen, sondern auf die Marktkräfte und ein aktives Unternehmertum zur Überwindung der Armut setzen.
Beteiligt sind ganz unterschiedliche Akteure, und entsprechend hat sich eine Vielzahl von Projekten und Versicherungsmodellen entwickelt. So gibt es profitorientierte Anbieter wie etwa die deutsche Allianz, die einige Modellangebote für Mikroversicherungen in potenziellen Märkten wie Indien, Indonesien und Ägypten entwickelt hat. Diese sind von gemeinnützigen Anbietern zu unterscheiden, die häufig anbieterorganisierte Projekte lancieren, etwa einzelne kirchliche Gesundheitsprogramme oder Missionskrankenhäuser. Eine dritte Form ist die kollektive Selbstorganisierung. Dazu zählen viele Initiativen in Westafrika, die Mutuelles de Santé oder spezifische Berufsgruppen-Verbände, zum Beispiel die Self-Employed Women Association in Indien, die neben der Förderung der ökonomischen Interessen ihrer Mitglieder auch Gesundheitsversicherungen aufgebaut haben.
An alle Modelle muss aber gleichermaßen die Frage gestellt werden, in welchem Maße sie tatsächlich zu einer Ausweitung eines universellen Zugangs zu Gesundheit und Gesundheitsversorgung dienen oder einem solchen Zielmöglicherweise sogar entgegenstehen.
Gesundheitsunternehmer
Profitorientierte Anbieter wie die Allianz beschränken sich zumeist auf für sie leicht kalkulierbare Modelle, so dass häufig nur klassische Lebensversicherungen für geringe Beiträge angeboten werden, die im Todes- oder Invaliditätsfall zur Auszahlung kommen. In einem Vorzeigeprojekt einer Mikro-Krankenversicherung im indischen Tamil Nadu überlässt die Allianz der dort lokal tätigen NGO Care International den Kleinkram: Die lokale Administration einschließlich Werbung, Beitragseinziehung, Kontrolle der Leistungsanbieter sowie Verhinderung von Missbrauch. Als Rückversicherer deckt die Allianz hier lediglich die selten eintretenden »großen Risiken« bei Krankenhausbehandlungen ab – für einen Prozentsatz der Beiträge. Damit wird ein Grundproblem der Mikroversicherungen, ihre hohen »Transaktionskosten« im Vergleich zu den sehr niedrigen Prämien, die sehr arme Menschen realistischerweise zahlen können, elegant »externalisiert« und von einer karitativen Organisation aufgefangen.
Gerade in den informellen Lebensbereichen der Armutmüssen hohe Investitionen in die Schulung und Information der potenziellen KundInnen über den Nutzen dieser neuartigen Angebote und auch in die Qualitätskontrolle der ambulanten und stationären Gesundheitsdienste erfolgen, die von den Einkünften der Versicherung nicht gedeckt werden können. Dies stellt infrage, wie dauerhaft solche Modelle sind.
Für die Allianz erscheint hier vor allem der Einstieg in einen potenziell interessanten Markt ausschlaggebend. Mit der immer bekannter werdenden Tochter Bajaj Allianz will sich das Unternehmen einen guten Namen machen, es spekuliert auf das anhaltendeWirtschaftswachstumdes »indischen Tigers« – um später auch die lukrativere Mittelklasse bedienen zu können. Die Zielvorgabe, den Kundenstamm von zwei auf zehn Millionen innerhalb von drei Jahren zu steigern, verrät, in welchen Größenordnungen hier gedacht wird. Wie begrenzt eine solche »private Vorsorge« unter den Bedingungen der Armut in der Realität ist, zeigte eine Untersuchung, die verschiedene private Mikroversicherungen in Indien vergleicht: von 14 schlossen zwölf Versicherungen Entbindungen und schwangerschaftsbedingte Krankheiten aus. Und mehr als die Hälfte versichern keine Menschen mit HIV-Infektion (Oxfam, 2008, S. 10).
Risiken genossenschaftlich verteilen?
Andere Mikroversicherungen wie das so genannte Provider-Modell entstanden durch Anbieter von Gesundheitsleistungen selbst. Es sind typischerweise gemeinnützige, oft kirchliche Krankenhäuser oder Gesundheitsprogramme, die versuchen, die Direktzahlungen der Kranken und ihrer Familien im Krankheitsfall durch solche regelmäßigen Versicherungszahlungen zu minimieren. Hier hängt der Umfang der versicherten Gruppe wesentlich von der Reichweite und der wahrgenommenen Qualität des Gesundheitsangebotes ab – und des von den Kunden eingeschätzten Nutzens. Da es nur freiwillige Mitglieder gibt, entscheiden sich Gesunde häufig gegen eine solche Versicherung, in die sie möglicherweise lange einzahlen, ohne selbst persönlich davon zu profitieren. Hier wird ein weiteres Grundproblem der Mikroversicherungen deutlich, bei denen eben gerade nicht »small is beautiful« gilt, sondern die nur funktionieren können, wenn genügend Mittel im Risiko-Pool akquiriert werden, umdie entstehenden Risiken respektive Kosten auch sicher abzudecken. Weil sonst der wesentliche Vertrauensfaktor, der die Armen dazu bewegen soll, von ihren geringen Barmitteln Versicherungsbeiträge zu bezahlen, schon frühzeitig scheitert. Im Gegensatz zu den Mikrokrediten ist das zentrale »Vertrauensverhältnis « bei den Mikroversicherungen nämlich umgekehrt. Bei Kreditvergabe muss die Institution der KreditnehmerIn vertrauen, dass er oder sie das Geld auch zurückbezahlt. Doch bei den Versicherungen muss die KlientIn der Institution vertrauen, im Schadensfall auch tatsächlich die Leistung zu bekommen, die ihm und ihr zusteht. Ein Vertrauen, dass Arme im tagtäglichen Überlebenskampf in informellen Lebens- und Arbeitsverhältnissen über ihre unmittelbare Familien- und Community-Zusammenhänge hinaus schwerlich erwerben. Gesetzliche Voraussetzungen wie eine staatliche Lizenzierung von AnbieterInnen müssten den Versicherten zumindest einen gewissen Schutz gegenüber unzuverlässigen Angeboten bieten.
Wegen des Vertrauensfaktors setzen die meisten Mikroversicherungen auch auf bereits vorhandene Nachbarschaftsverbände oder Kooperativen. Dazu zählen die vor allem in Westafrika verbreiteten Mutuelles de Santé als lokale oder allenfalls regionale Versicherungen in Dörfern oder Berufsgruppen, die sich durch die Selbstorganisation ihrer Mitglieder auszeichnen. Sie haben zudem Optimismus geweckt, wenn es um mehr »Empowerment« der Armen in ihrem Einfluss auf lokale Gesundheitspolitik geht oder umdas Ideal des Arzt-Patienten-Verhältnisses »auf Augenhöhe«. Hier kann dann der Risiko- Pool dank sozial verbindlicherer Mitgliedschaften leichter erhöht werden. Auch Quersubventionierungen von wohlhabenderen zu ärmeren Mitgliedern durch sozial gestaffelte Beiträge sind eher möglich.
Marktwirtschaftliche Grenzen
Die meist ehrenamtliche Administration dieser Community-Versicherungen bedeutet zwar reduzierte Kosten, aber oft auch begrenzte Professionalität, was das langfristige Überleben der Versicherung gefährden kann. Auch blockieren sie sich, wie alle anderen Mikroversicherungen für Arme, in einem unauflösbaren Zielkonflikt: Ummöglichst vielen den Zugang zu ermöglichen, dürfen die Beiträge nicht zu hoch sein. Damit sind die finanzierbaren Gesundheitsleistungen begrenzt, was die Attraktivität der Versicherungen wieder begrenzt, wenn man dann doch den größten Teil der Kosten im Krankheitsfall weiterhin aus eigener Tasche bezahlenmuss.
Die Hoffnung auf ein Modell, dass das Problem der sozialen Sicherung für Arme aus sich selbst heraus löst und gar noch profitorientierten Akteuren interessante Rendite verspricht, kann damit getrost ad acta gelegt werden.
Die aktuellen Erfolge etwa in Ruanda mit der Ausdehnung der Mutuelles de Santé auf 85 Prozent der Bevölkerung machen zwei Dinge deutlich. Erstens ist diese hohe Mitgliedschaft nur durch eine aktive Subventionierung der Beiträge für die Ärmsten möglich, die unter anderem aus internationalen Mitteln des Globalen Funds gegen AIDS, TB und Malaria stammen. Und zweitens erfordert auch die Qualität der Gesundheitsdienste staatliches Engagement, weil sonst die formale Mitgliedschaft in einer Versicherung keinesfalls eine funktionierende Versorgung im Krankheitsfall sicherstellt. Welchen Beitrag lokale Mikroversicherungen zum Empowerment der Beteiligten gegenüber lokalen Gesundheitsprofessionellen haben können um die Qualität und Patientenorientierung zu verbessern, ist dagegen weitgehend unklar. Einzelne positive Beispiele existieren, aber die meisten Projekte wurden vornehmlich unter finanzierungstechnischen und administrativen Aspekten aufgebaut und auch entsprechend evaluiert.(Soors et al. 2010)
Interessanterweise wird die Kritik am Konzept der Sozialversicherungsmodelle für eine soziale Absicherung der Armen nicht nur von NGOs wie Oxfam geführt (Oxfam et al. 2008). Auch aus den Reihen der Weltbank (etwa Wagstaff 2007) sind solche Stimmen zu hören. Sie halten die komplexen institutionellen Kontroll- und Regelwerke, die das Funktionieren der modernen Sozialversicherungssysteme in europäischen Ländern erst ermöglichen, unter den Bedingungen schwacher Staatlichkeit und hoher ökonomischer Informalität – wie sie in vielen Entwicklungsländern zu finden sind – für kaum realisierbar. Für das Ziel einer Gesundheitsversorgung für alle erachten sie eine steuerfinanzierte Finanzierung von öffentlichen Gesundheitsdiensten als sinnvoller. Ebenso bedenkenswert ist der Einwand, dass ein Konzept einer sozialen Sicherungmit einer Vielzahl von unterschiedlichen Kleinstversicherungen für unterschiedliche Gruppen geradezu kontraproduktiv für die gewünschte »Universalität« des Zugangs ist: Je mehr einzelne Gruppen sich ihre eigene Versicherung konstruieren, umso schwieriger wird die Schaffung eines genügend großen Versichertenpools, der die Gesundheitsrisiken gerade der Ärmsten auch durch solidarische Finanzierung zu sichern hilft. Die Harmonisierung einer solchen fragmentierten Landschaft von Klein- und Kleinstversicherungen könnte sich dann als weit mühsamer erweisen, als der Aufbau funktionierender öffentlicher Gesundheitsdienste.
Das Münchhausenprinzip
In jedem Fall gilt es wachsamzu sein, dass die neue Begeisterung für Mikroversicherungen nicht in einminimalistisches Konzept der Medizin für Arme mündet. Nationale wie globale solidarische Umverteilung sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass das Recht auf Gesundheitsversorgung tatsächlich für alle verlässlich realisiert werden kann. Das Münchhausenprinzip, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen,muss auch im Bereich der Mikroversicherungen ins Reich der Fabeln verwiesen werden.
Eine solche Debatte über dauerhafte internationale Verantwortung und mögliche Modelle eines internationalen Ressourcentransfers zur Sicherung des Zugangs für alle findet aktuell etwa bei der Joint Action and Learning Initiative statt, die erklärtermaßen auch die Zivilgesellschaft als Stakeholder einbeziehen will. Kritische Fragen nach der tatsächlichen »Universalität« des Zugangs und der Absicherung, die aktuell im Weltgesundheitsbericht 2010 debattiert werden, bleiben weiterhin brisant. Mikroversicherungen bergen die Gefahr, dass Arme mit minimalen »Essential Packages of Healthcare« abgespeist werden, die mal für 40, mal 60, mal 100 US Dollar pro Jahr und Person ausreichen sollen.
Literatur
– Adam Wagstaff 2007: Social Health Insurance reexamined, World Bank Policy Research Working Paper 4111.
– Oxfam et al. 2008: Joint NGO Briefing Paper No.112: Health insurance in low-income countries
– Where is the evidence that it works?
– GIGA FocusNr. 10 2009: LenaGiesbert, Janina Voss: »Marktbasierte Armutsreduzierung«? Mikroversicherung als Instrument der sozialen Sicherung.
– World Health Report 2010: Background Paper 48, Werner Soors, Narayanan Devadasan, Varatharayan Durairaj, Bart Criel: Community Health Insurance and Universal Coverage: Multiple paths, many rivers to cross.
– World Health Report 2010: Health systems financing: the path to universal coverage.
Beitrag von Andreas Wulf (medico international) in der iz3w März/April 2011