Palästina: Die Letzten waren die Ersten

09.07.2009   Lesezeit: 6 min

Biografie gewordene Geschichte: Erfan Abu Khousa, Gesundheitsarbeiter bei der Palestinian Medical Relief Society im Gespräch. Von Martin Glasenapp

Erfan Abu Khousa ist 47 Jahre alt und lebt in Beit Lahiya im nördlichen Gazastreifen. Einen ganzen Tag lang sind wir in dem palästinensischen Gebiet unterwegs, das in unmittelbarer Nähe zum Checkpoint Eretz liegt. Hier ist Israel ganz nah und trotzdem fast unsichtbar. Es zeigt sich nur durch eine Befestigungsanlage, die aus einer hohen Mauer, Zäunen und Aussichtstürmen besteht, von denen aus die Felder der Bauern überwacht werden. Die Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft: Zucchinifelder und Zitrusplantagen, aber auch Treibhäuser für Erdbeeren und Schnittblumen. In Beit Lahiya liegt auch das Flüchtlingslager Jabalia, in dem 1987 der Aufstand der Palästinenser gegen die israelische Besetzung, die erste "Intifada", begann. In den Dörfern unweit von Jabalia organisierte Erfan Khousa als Mitarbeiter der Palestinian Medical Relief Society während des jüngsten Krieges die Nothilfe, die von medico international unterstützt wurde. Hier im Norden waren die Angriffe besonders heftig.

Fremd auf eigenem Land

Die Menschen bitten uns in ihre zerstörten Häuser, wir sollen ihre ausgebrannten Wohnungen sehen, ihr zerschlagenes Mobiliar, aber auch die Schmähparolen in hebräischer Schrift, mitunter die Davidssterne, die die israelischen Soldaten bei den Razzien an die Wände sprühten. Der Krieg ist noch immer allgegenwärtig. Ein junger Vater, dessen dreijährige Tochter zusammen mit ihrer Mutter vor seinen Augen durch eine Brandbombe lebendig verbrannte, zeigt mir auf seinem Mobiltelefon das Foto, das er von seinem toten Kind aufnahm. Ein anderer Mann, der drei seiner Kinder durch eine Panzergranate verlor, weigert sich, den Müll in seinem zerschossenen Haus abzutragen, solange nicht der palästinensische Ministerpräsident Abbas nach Gaza kommt. Eine Frau erzählt, wie ein israelischer Soldat gegen den Befehl seines Kommandeurs, der ihn deswegen anschrie, während einer Razzia ihren jugendlichen Sohn im Treppenhaus niederschoss und schwer verletzte.

Bei all diesen Begegnungen bleibt Erfan Abu Khousa im Hintergrund. Meistens steht er ein wenig abseits, oder spricht mit den anwesenden Kindern. Niemals drängelt er oder mischt sich ein, nur manchmal korrigiert er ein Datum oder schreibt mir den Namen der Betroffenen in mein Notizbuch. Nach einem langen Tag fahren wir zurück nach Gaza-Stadt. Ich möchte mehr von ihm wissen und beim verspäteten Mittagessen unterhalten wir uns über seine Situation.

Ich frage Erfan Abu Khousa, woher er kommt. "1948er-Flüchtling", sagt er knapp. "Ich bin in Beit Lahiya geboren. Meine Familie kommt ursprünglich aus Moazin, einem kleinem Dorf nur wenige Kilometer hinter der Grenze. Einige der Raketen, die aus Gaza abgeschossen werden, landen auf unseren alten Äckern. Noch bis in die 1980er-Jahre arbeitete mein Vater als Farmarbeiter in Israel für schlechten Lohn auf den Feldern, die eigentlich unserer Familie gehörten. Morgens ging er nach Israel, abends kehrte er nach Gaza zurück. Wir wurden von den neuen Besitzern wie Fremde behandelt. Mein Vater sagte ihnen immer, dass es sein Land sei, aber sie bestritten das kategorisch. Er wurde krank davon und bekam Depressionen. Bis zu meinem 18. Lebensjahr arbeitete auch ich mit ihm zusammen auf diesen Feldern."

Im Zuge der ersten Intifada Mitte der 1980er-Jahre wurde Erfan Abu Khousa verhaftet, danach hatte er Einreiseverbot nach Israel und konnte nicht einmal mehr als Landarbeiter der Israelis seine Felder bewirtschaften. Aber wenn er sich an die Zeit der ersten Intifada erinnert, leuchten noch immer seine Augen. "Damals waren wir endlich Akteur unserer eigenen Geschichte." Nachdem er nicht mehr nach Israel konnte, begann er in Gaza mit der Erdbeerzucht. Zusätzlich engagierte er sich in den landwirtschaftlichen Komitees. "Seit jener Zeit arbeite ich in den nördlichen Dörfern als Gemeindeaktivist. Bis Anfang der 1990er-Jahre konnten die Bauern hier mit Erdbeeren, Gemüse und Schnittblumen gute Geschäfte machen. Die Produkte wurden über eine Kooperative mit Gewinn an einen israelischen Zwischenhändler verkauft, der die Ware weiter nach Europa exportierte. Aber die Blockade von Gaza beendete den Handel und jetzt, nach dem letzten Krieg, ist die Landwirtschaft komplett zusammengebrochen."

Nothilfe unter Feuer

Wir sind auf einmal in der Jetztzeit. Ich frage, wie die Bevölkerung auf die jüngste Gewaltwelle reagiert hat. "Alle waren wie gelähmt. Ich habe zwar einen Angriff erwartet, aber wirklich nicht in dieser Dimension. In Beit Lahiya schlugen die israelischen Bomben in den ersten Kriegstagen ein. Wir riefen die Bevölkerung auf, sich auf den Dorfplätzen zu sammeln, um sich gemeinsam in Sicherheit zu bringen. Das Mobilfunknetz funktionierte aber nicht mehr und wir mussten wie früher mit Megaphonen durch die Straßen laufen.

Zusätzlich trugen wir weiße Fahnen. Nach drei Tagen tauchten die ersten israelischen Panzer und Soldaten auf. Sie schossen ohne Vorwarnung. Wir flüchteten daraufhin in die UNWRA-Schulen (die UN-Organisation für palästinensische Flüchtlinge). Wir dachten, dass sie sicher wären. Nachdem die erste Schule bombardiert worden war, weigerten sich die Menschen, noch irgendwo hinzugehen.

20 Tage waren Erfan Abu Khousa und die anderen Bewohner von Beit Lahiya eingeschlossen. Sie hatten kaum Wasser, keine Milch und am Ende auch kein Brot mehr. Erfan war Tag und Nach mit der Medical Relief Society auf den Beinen: "Unsere Gesundheitsposten waren rund um die Uhr geöffnet. Wochenlang habe ich kaum geschlafen. Unsere Krankenwagen wurden beschossen, wir gingen zu Fuß mit den Krankentragen in die Dörfer und bargen die Verletzten aus den Trümmern. Unmittelbar während der Invasion waren nur die lokalen Freiwilligen der Gesundheits- und Bauernkomitees im Einsatz. Die Hilfswerke der Hamas und ein paar Fatah-Vertreter kamen erst nach dem Ende der israelischen Angriffe. Wir hatten wirklich nur unsere gelb leuchtenden Westen an und hofften, dass man die respektierte. Als ich in einem von Raketen zerstörten Haus eine tote Familie fand, die durch eine Brandbombe völlig verkohlt war, brach ich zusammen. Ich musste stundenlang weinen."

Zukunft und Hoffnung

Und wie geht es weiter, gibt es eine Zukunft? Erfan Khousa wirkt sehr nachdenklich. "Ganz Gaza ist ein einziges Problem" sagt er. "Nimm nur das Wasser. Durch die Blockade kann die Kläranlage nicht repariert werden. Es gibt einen toxisch verseuchten Abwassersee, der zu Allergien und Hautkrankheiten führt. Dazu die Pestizide in der Landwirtschaft, besonders bei den Erdbeeren. Früher war das Wasser umsonst, heute müssen es alle bezahlen. Fast alle großen Wassertanks wurden von den Israelis zerstört und wir haben zu wenige Ersatztanks bereitstellen können. Aber wir benötigen nicht nur besseres Wasser. Wir brauchen Zement, den die Israelis nicht durchlassen. Ohne Baumaterial können wir doch nichts wiederaufbauen. Im Sommer werden die Zelte zu heiß, im Winter drohen Regen und Kälte. Aber noch wichtiger ist unsere Einheit. Unsere Gesundheitskomitees arbeiten gut, aber solange die politischen Parteien Hamas und Fatah nicht kooperieren, haben wir keine Chance auf Veränderung. Ich fürchte mich wirklich vor der Regierung von Netanjahu, aber noch mehr Angst macht mir die eigene Hilflosigkeit, die unsere politischen Führer zu verantworten haben. Die Leute sind völlig deprimiert. Wäre die Grenze auf, würden 70 Prozent emigrieren. Wir brauchen Sicherheit und Frieden. Unsere humanitäre Katastrophe ist eine politische. Wir können uns selbst helfen, wenn wir die Möglichkeit dafür bekommen. Aber die Zeit verrinnt."

Projektstichwort

Die medico-Hilfe in Gaza geht weiter. Die Gesundheitskomitees der Palestinian Medical Relief Society organisieren jetzt die zweite Phase: Die Schäden werden aufgenommen und weiter Allernotwendigstes (Kochgeräte, Hausrat, Kleidung) verteilt. Zusätzlich kümmern sich Physiotherapeuten und Sozialarbeiterinnen um die physischen und psychischen Folgeschäden des jüngsten Krieges. Unser Spendenstichwort lautet: Palästina.

 


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