Walter Schütz erinnert sich an die Anfänge der Zusammenarbeit mit nicaraguanischen Wanderarbeitern.
Das Wiederansiedlungsprojekt in La Palmerita, das medico international noch zu meiner aktiven Zeit begonnen hat, gehört wohl zu den schwierigsten, die wir in dreißig Jahren Solidarität mit Nicaragua durchgeführt haben. In Palmerita wollten ursprünglich 160 verarmte Landarbeiterfamilien als Kleinbauern sesshaft werden. Die einstigen Tagelöhner hatten sich in der Kaffeekrise protestierend nach Managua begeben und dort Land erhalten. Alle anderen Hilfsversprechungen des damaligen Präsidenten Alemán wurden allerdings nie eingelöst. So saßen die einstigen Plantagenarbeiter auf dem Stück Land in Notunterkünften ohne Geld, ohne Saatgut und ohne landwirtschaftliche Kenntnisse. Vielleicht hatte man gehofft, das "Problem" werde sich früher oder später von selbst erledigen. Denn die "Jornaleros" sind flexibel und passen sich normalerweise den widrigen Überlebensbedingungen relativ klaglos an. Doch die Bewohner von Palmerita wollten ihren Traum vom Bauernleben nicht aufgeben, auch wenn sie sich nicht vorgestellt hatten, welche Entbehrungen das für sie bedeuten würde. Sie wandten sich an medico um Unterstützung, weil sie von unserer erfolgreichen Arbeit mit den Bäuerinnen und Bauern von El Tanque gehört hatten. So entstand die Projektförderung in Palmerita.
Warum ist das Geschehen in dem Ort nahe von León so fragil? Der Chefberater für Sozialangelegenheiten der derzeitigen Ortega-Regierung, Orlando Núñez, mit viel Praxis in der Weiterentwicklung von Kleinbauernkommunen, hätte medico wohl von einem solchen Projekt abgeraten. Er will mit Wanderarbeitern nichts zu tun haben. Für ihn sind das "Lumpen", wie er sie abschätzig nennt. Das Dumme ist nur: Unter die Kategorie der "Ärmsten der Armen" fallen in Nicaragua 25 % der Bevölkerung.
Programme der Armutsbekämpfung dürften gerade sie nicht aussparen. Das aber tun sie, weil das Gelingen der Programme nicht sicher vorhersehbar ist. Das hat mit der ausgeprägten Kultur der Armut zu tun. Von außen betrachtet würde man wohl sagen, dass es den meisten Menschen dieser Gruppe an Selbstbewusstsein mangelt. Von klein auf sind die meisten das patriarchalische Verhalten des Kaffeefinca-Besitzers gewohnt, der sie fortwährend gängelt und unselbstständig hält. Der Finca-Besitzer oder sein Verwalter entscheiden über Wohl und Wehe: Wer am nächsten Tag gegen Stücklohn weiterarbeiten darf und wer nicht. Arbeitsrechtliche Regelungen gibt es für Wanderarbeiter nicht. Man kann sein Leben nicht planen und verliert damit auch die Fähigkeit zu planen. Ein willkürliches Arbeitsangebot empfinden viele so als Geschenk oder glücklichen Umstand. Überleben heißt unter diesen Umständen, solche kurzfristigen Momente zu suchen und jede Gelegenheit zu nutzen.
Eine langfristige Strategie, wie das eigene Leben berechenbar und unabhängig von Geschenken oder dem Goodwill Fremder wird, kann man in den Armutsstrukturen Nicaraguas kaum entwickeln. Diese extreme Abhängigkeit von äußeren Umständen führt bei vielen Menschen zu mangelnder Bindungsfähigkeit. Das trifft auf individuelle Beziehungen genauso zu wie auf das Zusammenleben in Gemeinschaften. Aggressives Verhalten, Gewalt und Kriminalität sind oft die Folge. Ich lernte zu akzeptieren, dass diese Bevölkerungsgruppe aber gerade wegen ihrer Verhaltensmuster bisher überlebt hat.
Walter Schütz hat 30 Jahre lang für medico als Projektkoordinator unter anderem in Mittelamerika gearbeitet. Er verbringt seinen wohlverdienten Ruhestand in Nicaragua.