Nach dem Giftgasangriff verspricht die syrische Tragödie weiterhin kaum mehr als Grauen und Leid. Der US-amerikanische Militärschlag gegen das Assad-Regime ist aufgeschoben. Doch die Gefahr einer militärischen Intervention ist längst nicht gebannt, und in Syrien geht das Töten mit konventionellen Waffen weiter. Welche Möglichkeiten der solidarischen Hilfe bestehen unter diesen Umständen noch?
Die eigentliche syrische Revolution, das Aufbegehren gegen Armut und Willkürherrschaft, das den Aufstand am Anfang auszeichnete, ist zerrieben. Täglich verlassen 6.000 Syrerinnen und Syrer das Land. Zwei Millionen Menschen sind bereits in die Anrainerländer geflohen, und geschätzte vier Millionen befinden sich innerhalb des Landes auf der Flucht – bei 23 Millionen Einwohnern. 1,3 Millionen Wohneinheiten sind zerstört. Einzelne Regionen und Ortschaften mit besonders intensiven Kampfhandlungen gleichen unbewohnbaren Kraterlandschaften. Der Krieg hat inzwischen den Charakter eines finalen Kampfes. Das syrische Regime will die „Terroristen ausradieren“ und meint damit die Opposition. Es weiß dabei noch immer einen beträchtlichen Anteil der Bevölkerung hinter sich, die ihrerseits Angst vor zunehmend radikalreligiösen Rebellen haben. Diese drohen spätestens nach den Giftgasopfern von Damaskus ganz unverhohlen mit der Vertreibung und Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Alawiten und Christen.
Zwischen beiden Lagern befinden sich all jene, die sich keinerlei Seite zugehörig fühlen, die aber Angst vor einem möglichen Machtwechsel und damit auch dem Ende ihrer kulturellen Werte und Lebensweise haben. Der mehr als zweijährige syrische Bürgerkrieg hat den einst hoch zentralisierten Staat in drei verschiedene Einflusszonen geteilt, von denen jede über eigene Fahnen und „Sicherheitsstrukturen“ verfügt. In jeder dieser Zonen finden ideologische Machtkämpfe statt, und die Frontlinien sind in permanenter Bewegung. Das Regime hat festen Zugriff auf einen Korridor, der von der südlichen Grenze zu Jordanien über die Hauptstadt Damaskus bis an die Mittelmeerküste reicht. Die Rebellen kontrollieren einen Raum, der sich von der türkischen Grenze über Aleppo im Norden und entlang des Euphrat zu der porösen irakischen Grenze im Osten erstreckt. Versteckt in der nordöstlichen Ecke, hat mittlerweile die kurdische Minderheit eine provisorische Semiautonomie. Während die sunnitischen Rebellen große Teile der ländlichen Gebiete im Norden kontrollieren, ist die Regierung weiterhin – mit Ausnahme der Stadt Raqqa und Teilen von Aleppo – in allen Provinzhauptstädten präsent. Das Regime hält zudem eine Unzahl von Militärbasen und Checkpoints, die aber vielfach nur noch aus der Luft versorgt werden können.
Die Oppositionsbewegung selbst ist weit entfernt von einem einheitlichen politischen und militärischen Vorgehen. Zuletzt brachen offene Kämpfe zwischen „moderaten“ prowestlichen Einheiten der „Freien Syrischen Armee“ und radikalreligiösen Milizen aus. Dazu haben mit Al-Qaida liierte Terrorgruppen begonnen, die kurdischen Siedlungsgebiete anzugreifen. Im Norden hissen radikalreligiöse Milizen schwarze Fahnen des Islams. Deren „Justizräte“ praktizieren ihre Interpretation der Scharia: sie richten gefangene Soldaten und Anhänger des Regimes öffentlich hin oder köpfen Angehörige religiöser Minderheiten. Im Nordosten sind kurdische Flaggen zu sehen, nachdem sich für die größte Minderheit im Land durch den Rückzug der Zentralgewalt das zuvor undenkbare Fenster einer föderalen Autonomie öffnete. Die circa 2,5 Millionen Kurdinnen und Kurden wurden jahrzehntelang von Assads Baath-Partei unterdrückt, zwangsassimiliert und verfolgt. Jetzt gehen sie überschwänglich mit ihrer zuvor verdrängten Sprache und Kultur an die Öffentlichkeit, sie verfügen über eine eigene Polizei sowie Sicherheitskräfte mit hohem Frauenanteil und erproben eine direkte kommunale Demokratie. Die Schulkinder lernen Arabisch und Kurdisch in der Schule – der absolute Tabubruch.
Alltagshelden nahe der Hauptstadt
Auch wenn jenseits der kurdischen Brise von Freiheit das syrische Bild nur düster erscheint, ist nicht alles im Land ohne Hoffnung. Natürlich müssen sich die verbliebenen zivilen Komitees sowohl gegen ein erbarmungsloses Regime erwehren, das ganze Stadtteile dem Erdboden gleich macht, wie auch gegen den immer stärker werdenden religiösen Terror bewaffneter Milizen. Aber es gibt auch Ausnahmen, Orte dazwischen, wo soziale Freiräume erkämpft und verteidigt werden. Etwa in der Stadt Erbin, dem viertgrößten Vorort von Damaskus mit etwa 75.000 Einwohnern, mehrheitlich sunnitisch geprägt, aber auch mit einer griechisch-orthodoxen Gemeinde. Erbin ist traditionell eine Region mit einer Vielzahl von Handwerksbetrieben und lokalen Fabriken für landwirtschaftliche Produkte. Das Basiskomitee von Erbin gründete sich bereits im Sommer 2011 zu Beginn des damals noch friedlichen Aufstands. Später fanden auch hier heftige Kämpfe zwischen der Armee und der oppositionellen „Freien Syrischen Armee“ statt. Aber Erbin hatte Glück im Unglück. Im Winter 2012 zogen sich die Soldaten aus weiten Bereichen der Stadt zurück. Das lokale Komitee gründete Suppenküchen für Flüchtlinge, eine Feuerwehr, eine Müllabfuhr, eine juristische und eine medizinische Kommission, dazu ein Medienzentrum. Dabei hatte das Komitee selbst Glück, denn durch den Kontakt zu der in Deutschland ansässigen Solidaritätsinitiative „Adopt a Revolution“ konnte ein satellitengestützter Breitband-Internetzugang eingerichtet werden, über den die lokale Mediengruppe Anschluss an die globale Öffentlichkeit fand.
Erbin liegt nur wenige Kilometer von den Ortschaften Ain Tarma, Zamalka und Moadamieh im Raum Ost-Ghouta entfernt, wo am 21. August 2013 die Giftgasangriffe die meisten der rund 1.000 Opfer forderte. Die Aktivisten des Komitees von Erbin waren daher mit als Erste vor Ort, halfen Tote und Verletzte zu bergen und versuchten mit ihren Mobiltelefonen und Kameras das grauenhafte Geschehen zu dokumentieren. Und weil es jenen Satellitenzugang durch Spenden aus Deutschland gab, konnten die schockierenden Aufnahmen tatsächlich die Welt sofort erreichen - und bewegen. Die Bilder aus Erbin waren bei CNN, Al Jazeera, im ARD-Brennpunkt und in der New York Times zu sehen.
Nicht weniger notwendig ist ein weiteres Projekt: die Freie Schule. Nachdem viele Schulgebäude zerstört wurden oder Flüchtlinge beherbergen, mussten neue Formen des Unterrichts ersonnen werden. Zudem bieten verstärkt islamische Hilfswerke Kurse an, in denen die zuvor mit Lobhudeleien auf die Assad-Familie gespickten Lehrbücher durch religiöse Gebetsschriften ersetzt werden. Das Komitee konnte mit den lokalen Rebellenkommandeuren aushandeln, dass es unabhängige Schulen einrichten kann, denen sich kein Bewaffneter nähert und in deren Lernstoff sich niemand einmischt. So entstanden die ersten Klassen, zumeist in Kellern von größeren Häusern. Hier versuchen freiwillige Lehrer für ein kleines Gehalt, das von medico getragen wird, mit selbst entwickelten Lehrbüchern, die Kinder auf ein neues, freiheitlicheres Syrien vorzubereiten, wo Bürgerrechte, aber auch das Recht auf den eigenen Glauben und kulturelle Differenz respektiert werden.
Die Mühen der Selbstverwaltung
Dass dieses Ziel kein leichtes Unterfangen ist, bestätigte im 600 Kilometer von Erbin entfernten syrisch-kurdischen Qamischli im Gespräch mit medico unlängst auch Sinam Mohammed, Vertreterin des Hohen Kurdischen Rats. Eine föderale, demokratische Selbstverwaltung und ein solidarisches Miteinander seien Ausdruck einer Haltung, so die kurdische Politikerin, die die syrische Gesellschaft erst erlernen müsse. „Wir haben den autoritären Baathismus, das pure Gehorchen, die Gewalt bei Widerspruch und die Unmöglichkeit der Mitsprache seit Kindesbeinen eingebläut bekommen.“ Insofern sei es auch mühsam, in den vom Regime hinterlassenen Leerstellen, sofort eine bürgerschaftliche Verantwortung zu entwickeln.
Aber auch der Mangel an Sicherheit, Strom, Medikamenten und medizinischem Gerät gefährdet die Erfolgsaussichten des kurdischen Experiments. Für Shenaz Mihoo, Präsidentin des kurdischen Roten Halbmonds in Syrien, ist der Gesundheitsnotstand längst Alltag geworden: „Seit Monaten haben wir extreme Probleme in allen Krankenhäusern. Es fehlen Blutkonserven, Sauerstoff, Eis, Operationsmaterial wie Kanülen. Überwundene Infektionskrankheiten brechen wieder aus, weil seit zwei Jahren die Impfungen ausfallen.“ Unlängst schaffte medico es, zusammen mit den Solidarstrukturen der kurdischen Zivilgesellschaft in der Türkei, medizinische Nothilfe ins bedrängte „Rojava“ (kurdisch: „Westen“) zu senden, wie Kurdinnen und Kurden Westkurdistan in Syrien liebevoll nennen.
Noch immer ist alles ein Anfang, inmitten des sich ausweitenden Bürgerkriegs. Die revolutionären Träume wurden zu Grabe getragen, die Hoffnung auf ein anderes Syrien aber stirbt zuletzt.
medico möchte ausdrücklich allen Spenderinnen und Spendern danken, die unsere solidarische Nothilfe in der komplizierten syrischen Lage erst ermöglichen: engagierte Ärzte, freie Schulen, medizinische Nothilfe in Kurdistan. Durch ihr Vertrauen kamen in diesem Jahr bereits 90.000 Euro zusammen (Stand Anfang September 2013). Das macht uns Mut und gibt uns die Möglichkeit der unabhängigen Unterstützung all jener lokalen Partner, die weiterhin an der Hoffnung auf ein freies Syrien festhalten – jenseits der Despotie und des religiösen Terrors, entgegen einer noch immer drohenden westlichen Militärintervention.