Thesen
Erstens
Die Forderung, Pädagogik habe sich an den Ressourcen der Kinder und Jugendlichen zu orientieren und nicht an deren Defiziten, gehört – seit Mitte des letzten Jahrhunderts – zu den weitgehend unhinterfragten Selbstverständlichkeiten in Theorie und Praxis nicht zuletzt von Sozial- und Sonderpädagogik.
Die Frontstellung ist recht klar: Während der Ressourcenansatz die Kinder und Jugendlichen als Subjekte ihrer Lern- und Bildungsprozesse ernst nimmt, machte der frühere Defizitansatz sie zu Objekten einer fremdbestimmten Pädagogik, verweigerte ihnen die Anerkennung als kompetente, eigenständige und selbstverantwortliche Menschen und stigmatisierte sie so als defizitär, erziehungsbedürftig, behindert, zurückgeblieben oder seelisch krank; kurz: als asozial oder dissozial.
Zweitens
In letzter Zeit hat dieses Leitkonzept kritischer Pädagogik einen Bündnisgenossen bekommen: das Resilienzkonzept. Ein neuer Stern, so scheint es, ist am Himmel der Pädagogik aufgegangen – ein Zwillingsstern gleichsam zum Ressourcenansatz. Die Untersuchung seelischer Resilienz war ursprünglich eng verbunden mit der Traumaforschung.
Dem Konzept der Resilienz lag die Frage zugrunde, welche seelischen Faktoren oder Strukturen bei einem Menschen dafür verantwortlich sind, dass er – im Unterschied zu vielen anderen Menschen in vergleichbarer Lage und mit ähnlichen Erfahrungen – ein schweres psychisches Trauma verarbeiten kann, ohne dass schwerwiegende seelische oder körperliche Folgen zurückbleiben.
Ohne Zweifel lebt die Attraktivität des Resilienzkonzepts davon, dass die Befunde der Resilienzforschung sich offensichtlich mühelos mit zentralen Elementen des Ressourcenansatzes verknüpfen und nicht zuletzt in der Sozial- und Sonderpädagogik nutzen lassen.
Fordert also der Ressourcenansatz die vorzügliche, wenn nicht gar ausschließliche Orientierung der Pädagogik an den Ressourcen ihrer Klientel, so stellt das Resilienzkonzept einen spezifischen Typus von Ressourcen ins Zentrum, eine Art von seelischer Widerstandsfähigkeit bei Kindern oder Jugendlichen gegenüber situativen oder chronischen, psychischen oder psychosozialen Belastungen.
Drittens
Ich fasse zusammen: Gegen den Defizit-Ansatz in Erziehung, Beratung und Therapie wurde und wird zurecht eingewendet: Der negative Blick auf die Defizite diene der Diskriminierung und Zuschreibung, sei also Ausdruck von Kolonalisierung und Blindheit gegenüber den spezifischen Potentialen und werde genutzt als Kriterium der Trennung von guten und schlechten Armen, Bedürftigen. Für den Ressourcen-Ansatz als Alternative sprach und spricht zu Recht: Der respektvolle Blick der Anerkennung des Fremden, Anderen ist eine grundlegende Voraussetzung für jedes Arbeitsbündnis im Feld von Erziehung, Hilfen, Therapien.
Das Resilienzkonzept begründet, verstärkt und justiert den Ressourcenansatz: die generelle Annahme von Resilienz kann zum einen die Perspektive auf die spezifischen Ressourcen des jeweiligen Falls stärken, kann zum anderen die pädagogische und therapeutische Arbeit auch mit den schwierigsten und anscheinend hoffnungslosesten Fällen motivieren und kann schließlich diagnostisch begründete Hypothesen über die Resilienz von Kindern und Jugendlichen generieren, notwendige Arbeitshypothesen für die pädagogischen oder therapeutischen Arbeitsbündnisse.
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Antithesen
Erstens
Dass ausgerechnet die sonder- und sozialpädagogische Theorie und Praxis sich an Fragestellung und Befunden der Resilienzforschung orientieren sollte, ist so selbstverständlich nicht angesichts der zentralen Problematik blockierter und missglückter Entwicklungsprozesse, mit der sich diese Professionen auseinandersetzen müssen.
Schwierige, verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche haben mit hoher Wahrscheinlichkeit in frühester Kindheit schwere Verletzungen erlitten; und in extremen Einzelfällen ließen schwere und kontinuierliche Vernachlässigung oder emotionale Verwahrlosung im frühesten Kindesalter es gar nicht erst dazu kommen, dass ein bedeutsames gutes Objekt verinnerlicht werden konnte. Entsprechend schwach ist dann auch die Resilienz ausgeprägt.
Schon kleine verletzende Erfahrungen, die andere Kinder relativ schnell verarbeiten, können chronisch vernachlässigte, misshandelte oder verwahrloste Kinder hoffnungslos überfordern. Sie haben kein genügend starkes und gutes, sondern eher ein hochambivalentes, stetig bedrohtes und fraglich gutes inneres Objekt.
Erschwerend kommt hinzu: Die oft befremdlichen und schwer zu ertragenden Verhaltensweisen dieser schwierigen Kinder und Jugendlichen sind nicht einfach als Ausdruck einer mangelhaft ausgebildeten Resilienz zu verstehen. Sie sind vielmehr wesentlich Abwehr- und Schutzstrategien. Diese schwierigen Kinder und Jugendlichen haben sich in ihrer frühen Kindheit gegen erfahrene Missachtung, Misshandlung, Bedrohung und Verletzung durch Strategien der Angstabwehr ihr seelisches und körperliches Überleben sichern müssen.
Die Resilienz dieser Kinder und Jugendlichen verbirgt sich nicht selten hinter schwer erträglichen Formen von Abweisung, Zurückweisung, Aggressivität oder Destruktivität – gerade so als müsse sie vor den Zugriffen der Erwachsenen geschützt werden. Auch eine noch so umfassende Einsicht in die Resilienzpotentiale dieser Kinder und Jugendlichen – wäre sie überhaupt möglich – würde wenig dazu beitragen, ihre Probleme und Schwierigkeiten, ihre Verhaltensstörungen und deren subjektiven Sinn zu entschlüsseln.
Wer diese Kinder und Jugendlichen verstehen will, wer ihnen helfen will, muss ihre Störung verstehen. Denn der Schlüssel zum adäquaten Verständnis und zur angemessenen Arbeit findet sich in den seelischen Verletzungen und Konflikten, die sich hinter den Verhaltensstörungen verbergen, die resilienten Fähigkeiten zurückdrängen oder in den Dienst von Abwehr und Störung stellen.
In der Verbindung mit dem Ressourcenansatz wird das Resilienzkonzept fast unweigerlich zum Instrument der Verharmlosung und Leugnung der nicht selten schweren Störungen und Entwicklungsblockaden, die das störende Verhalten von Kindern und Jugendlichen antreiben.
Zweitens
Der Ressourcenansatzes in inniger Verknüpfung mit dem Resilienzkonzept hat seine ursprünglich kritische Frontstellung in den zurückliegenden Jahrzehnten verloren; mittlerweile haben wir es bei diesem Ansatz mit einem eher affirmativen Konzept der Konfliktvermeidung oder Konfliktverharmlosung zu tun. Die nunmehr fast dreißigjährige Phase sozialpolitischer Gegenreformen hat sich auch dieses kritischen Elements vergangener Reformdebatten bemächtigt und es in ihrem Sinne verkehrt:
Vor allem das geradezu dogmatische Verdikt einer positiven Pädagogik gegen jegliche Rede von Defiziten, Störungen und mangelnden Ressourcen lässt sich bequem in den Dienst der ideologischen Legitimation schlechter Verhältnisse stellen – und der nicht minder ideologischen Leugnung oder Verharmlosung dessen, was diese gesellschaftlichen Verhältnisse anrichten: bei Kindern und Jugendlichen, bei ihren Eltern und bei den für sie verantwortlichen Erwachsenen. Nur zwei Schritte braucht es dazu:
1. Auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene wird unterstellt, dass alle Kinder und Jugendlichen sowie ihre Familien „im Prinzip“ über jene Ressourcen verfügen, die sie für ihre gute Entwicklung benötigen; und auf der pragmatisch-pädagogischen Ebene verbindet sich mit dieser Unterstellung nicht selten eine behavioristische Konzeption des Verhaltenstrainings nach dem Prinzip einer positiven Verstärkung der vorhandenen Ressourcen.
Und daraus dann folgend: Wer über die notwendigen Ressourcen verfügt, trägt letztlich auch die Verantwortung dafür, ob sie genutzt werden. Sei es in Hilfeplanvereinbarungen oder in Eingliederungsvereinbarungen, seien es Kinder, Jugendliche oder Eltern: der mündige Bürger wird unterstellt und eingeklagt nach dem Motto des aktivierenden Sozialstaats vom Fordern statt Fördern.
So entlastet sich eine ganze Profession von der Einsicht in die Bedingungen „struktureller Verantwortungslosigkeit“, unter denen sie pädagogisch arbeitet; so entlastet sich ein Bildungssystem, das an seinem vordemokratischen Selektionsauftrag festhält und seinen demokratischen Bildungsauftrag verrät; und so entlastet sich der Staat, der zur Sicherung der Privilegien seiner Eliten sich aus seiner sozialstaatlichen Verantwortung zurückzieht, die ja darin bestünde, zum einen für die sozialen Verhältnisse zu sorgen, die es den Individuen ermöglichen, als mündige Bürger über sich und ihr Leben zu befinden; und zum anderen dort Wiedergutmachung zu leisten, wo Kindern und Jugendlichen die notwendigen Lebens- und Entwicklungsbedingungen versagt sind.
Die schwarze Utopie der Gegenreformen am Arbeitsmarkt: die flexible, immer und überall und zu den widrigsten und familienfeindlichen Bedingungen bei Niedrigstlöhnen einsetzbare Arbeitskraft, findet im pädagogischen Jargon in der Rede vom resilienten Kind ihre Ergänzung. Das zeigt ein Blick in die Google-Suchmaschine: Unter dem Suchbegriff Stehaufmännchen Resilienz kann man das Gruseln lernen: Vor 5 Jahren waren es etwa 1.200 Google-Ergebnisse, heute sind fünf Mal so viele.
Das resiliente Kind – ein Stehaufmännchen! Kann man sich ein grusligeres Erziehungsziel vorstellen: unberührbar und unerschütterlich zu sein, komme was da wolle? In unserer Untersuchung Störer und Gestörte sind uns solche Stehaufmännchen begegnet: schwer gestörte Kinder in einem schwer gestörten Bildungs- und Erziehungssystem.
Drittens
Ich fasse zusammen: Der Ressourcenansatz im Bündnis mit dem Resilienzkonzept bietet sich geradezu als Instrument der Verharmlosung oder Verleugnung an. Das sympathische Verbot, man dürfe diese schwierigen Kinder und Jugendlichen nicht diskriminieren, stigmatisieren, pathologisieren oder psychiatrisieren, dient unter der Hand der Entlastung bei professionellem Scheitern, der Verharmlosung der institutionellen Anteile an den gestörten Bildungsprozessen, der Verschleierung der strukturellen Ursachen entgleister Bildungskarrieren und generell der Verleugnung der gesellschaftlichen Grenzen öffentlicher Erziehung und Bildung.
Das Resilienzkonzept legitimiert so den Rückzug des Staates aus seiner sozialstaatlichen Selbstverpflichtung, in dem es die sozialen, richtiger: asozialen Folgen neoliberaler Politik und Ökonomie für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zum einen "privatisiert", zum anderen auf die überforderten Systeme öffentlicher Erziehung und Bildung und auf die dort arbeitenden Professionellen abwälzt.
An die Stelle gesellschaftspolitischer Reformen des öffentlichen Bildungssystems tritt der pädagogische Jargon - nachlesbar im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan (2007): Dieser Jargon ist durch uns durch positiv und singt das Hohe Lied von den kompetenten, resilienten Kindern, den wahren Experten ihrer Wünsche und Interessen, ihrer Weltsicht und Lebenslage; das Hohe Lied von ihren kompetenten und resilienten Eltern, den wahren Spezialisten für ihre Kinder; und das Hohe Lied von umfassenden, kompetenten Bildungs- und Erziehungspartnerschaften von Kindern, Eltern und den Professionellen der öffentlichen Bildung und Erziehung.
Als gebe es keine Armut und Massenarbeitslosigkeit, keine Verelendung von Migranten und Hartz IV-Abhängigen, keine zu kleinen, feuchten Wohnungen, keine zerstörten Familien, keinen Alkoholismus, keine Verwahrlosung, keine chronischen Ängste und Fremdheitsgefühle, keinen Missbrauch von Kindern, keine Gewalt in den Familien.
Kompetenz, Resilienz und individuelle Ressourcen werden beschworen, als dürfe nicht die Rede sein von den gesellschaftlichen Verhältnissen, die Kinder vernachlässigen, verletzen, um ihre Entwicklung betrügen und ihrer Zukunft berauben.
Synthesen
Erstens
Nicht zwingend, wohl aber auf dominante Weise lenkt das Resilienzkonzept den Blick auf die individuelle, psychische Ausstattung der Kinder und Jugendlichen. Und das ist auch durchaus notwendig, denn im Zentrum aller pädagogischer oder therapeutischer Arbeit muss das Bemühen um das Fallverständnis stehen. Zugleich aber birgt diese notwendige Perspektive auf den einzelnen, individuellen Fall, die Gefahr der institutionellen und strukturellen Blindheit:
Als solle ausgeblendet werden, dass die Schwierigkeiten und Probleme der Kinder, ihrer Familien und der für sie verantwortlichen Professionellen der öffentlichen Erziehung und Bildung ihre stärksten Quellen in den „gesellschaftlichen Grenzen der Pädagogik“ haben. Denn kämen die zur Sprache, stünden rasch Fragen der Verteilung von Macht, Privilegien und Ressourcen und mit ihnen weitere unangenehme Wahrheiten auf die Agenda:
Das deutsche Schul- und Bildungssystem dient traditionell und bis heute der Auslese und nicht der Förderung von Resilienz. Es macht wie kein anderes Bildungssystem Bildungserfolg und Bildungskarriere weitgehend abhängig von der sozialen Lage und der durch sie bedingten Bildungsnähe der Eltern, und verstärkt so die Vulnerabilität gerade jener Kinder und Jugendlichen, die von zuhause aus nur eine geringe Resilienz entwickeln und in die Schule mitbringen konnten.
Die Situation der Sonder- und Sozialpädagogik in Deutschland ist heute immer noch und vor allem dadurch charakterisiert, dass ihre Professionellen zum einen mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten haben, die über ein extrem geringes Maß an Resilienz verfügen, weil sie aus Familienverhältnissen kommen, in denen pathogene Faktoren überwiegen und salutogene Faktoren die Ausnahme sind; und dass ihre Professionellen zum anderen innerhalb von Institutionen und unter strukturellen Rahmenbedingungen arbeiten müssen, die verantwortliche und verlässliche Förderung gerade der besonders belasteten Kinder und Jugendlichen eher erschweren und nicht selten Resilienz schwächen und pathogene Faktoren verstärken.
Zweitens
Gegen die Verleugnung und Verharmlosung dieser „Grenzen der Pädagogik“ sei noch einmal daran erinnert, dass diese Kinder und Jugendlichen zunächst und vor allem etwas anderes brauchen als Pädagogik, Beratung oder Psychotherapie: Körperlich und/oder seelisch vernachlässigte Kinder brauchen als Erstes: dass Vernachlässigung aufhöre; also bessere Lebensverhältnisse und elterliche oder die Eltern ersetzende verlässliche Bezugspersonen, die die realen unterversorgten Bedürfnisse des Kindes sehen, anerkennen und real beantworten und befriedigen können – also das Kind ganz real besser versorgen können, auch emotional.
Drittens
Ein dritte Perspektive ist heute mehr denn je geboten und gehört in den Fokus: zwei Fragen an öffentliche Erziehung und Bildung heute:
Wie müssen heute die Einrichtungen der öffentlichen Bildung und Erziehung aussehen, damit sie gute Orte des Lernens und der Entwicklung für Kinder und Jugendliche sind? Ich kann mich hier kurz fassen: Alle qualifizierten Überlegungen und Konzepte der Reformpädagogik der zurückliegenden hundert Jahre orientierten sich – in ihrer jeweiligen Fachsprache – an der Frage, wie die Rahmenbedingungen öffentlicher Erziehung und Bildung aussehen und über welche Qualifikationen die Professionellen in diesem Feld verfügen müssen, um bei Kindern und Jugendlichen Ressourcen zu stärken und Resilienz aufzubauen.
Und vor dem Hintergrund des Resilienzkonzeptes kann ohne Mühe der ebenso bekannte wie umfangreiche Katalog von Anforderungen, Kriterien oder Zielen formuliert und begründet werden, der umgesetzt werden müsste, will man eine gute vorschulische und schulische öffentliche Bildung, Erziehung und Förderung aufbauen.
Und 2. Woran in der mehr als hundertjährigen Geschichte der Reformpädagogik alle diese guten und begründeten pädagogischen Konzepte und Programme gescheitert sind. Die Antwort auf diese Frage ist fast so alt wie die Reformpädagogik selbst: gescheitert an den gesellschaftlichen Grenzen der Pädagogik. Der Scheinwerfer wäre nun zu richten auf die Professionellen der öffentlichen Erziehung und Bildung.
Denn sie haben die pädagogische Verantwortung in ihrem Feld – und mit ihr zwingend auch die Verantwortung für die institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiten. Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer sind verantwortlich, also auch zuständig und damit dann auch verpflichtet zu intervenieren, wenn sie feststellen müssen, dass die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit, die gesetzlichen Regelungen, die Verwaltungsvorschriften, die organisatorischen Gepflogenheiten, die räumlichen und personellen Ausstattungen, kurz: dass die strukturellen Bedingungen ihrer Arbeit im krassen Widerspruch stehen zu den Anforderungen an eine gute Kindertagesstätte oder gute Schule, als Lebens-, Lern- und Handlungsraum, der seine Strukturen vorrangig am Konzept der resilienzstärkenden Lern- und Arbeitsbedingungen ausrichtet.
Eine solche strukturelle Verantwortlichkeit der Professionellen hieße, dass sie das Recht – mehr noch - die Pflicht hätten, alle ihre Arbeitsbedingungen und -strukturen an diesen Anforderungen zu messen; so wäre beispielsweise auch die grassierende Verschulung der öffentlichen Vorschulerziehung unter die Lupe zu nehmen. Wohl gemerkt, alles stünde zur Disposition, angefangen von der Benotung individueller Leistungen über den 45-Minuten-Takt der Unterrichtsstunden, die Verbindlichkeit und Umsetzung der Lehrpläne, die Gruppen- oder Klassenstärke, die standardisierten Prüfungen bis hin zur Halbtagesregelschule und dem gegliederten Schulsystem der deutschen „Ständeschule“.
Die so verstandene Frage nach den Ressourcen und Kompetenzen, also nach der Resistenz der Professionellen, ist zugleich auch die Frage nach der Konfliktfähigkeit und Konfliktbereitschaft dieser Berufsgruppen; eine Frage, die vom Ressourcenansatz ebenso regelmäßig wie vom Resilienzkonzept ausgeblendet wird.
Und das mag dann auch der "geheime" Sinn dieses Modebegriffs sein, der längst das Feld der Erziehung, Beratung und Therapie schwieriger und benachteiligter Kinder und Jugendlicher verlassen hat: Wer nicht über die Notwendigkeit, Bedingungen und Möglichkeiten des Widerstands gegen die gesellschaftlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse reden will, sollte über Resilienz und Resourcen der Individuen schweigen.